|
 |
Hans-Martin Schönherr-Mann
Stärkung moralischer Urteilskraft
Philosophie nach Auschwitz
Die Forderung, "dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die
allererste an Erziehung", so Theodor Adorno 1966. Muss man sich
wundern, dass Adornos Postulat keinen nachhaltigen Eingang in die
ethische Debatte gefunden hat? Wie soll man moralisch auf Auschwitz
antworten außer mit verständnislosem Entsetzen? Und doch
stellt sich die Frage, was Auschwitz moralisch bedeutet, als was
man den Holocaust verstehen muss. Darauf zu antworten, ist
zweifellos die Leistung dieses Buches.
Zimmermann versucht, den Holocaust als ethisches Phänomen
zu beschreiben, damit nicht die selbstverständliche moralische
Verurteilung im Vordergrund steht. In Auschwitz enthüllt sich
für ihn die Intention, Menschlichkeit und Menschsein
fundamental umzuwerten, um ein neues Menschentum zu schaffen, das
die abendländisch- christliche Ethik zerstört und hinter
sich lässt. Vor allem deren Universalismus, dass allen
Menschen die gleiche Menschlichkeit eignet - ein Universalismus,
der sich politisch wie sozial durchsetzte -, wollte das NS-Regime
stoppen.
Der Elite des Regimes folgten in der strukturellen Umformung des
eigenen ethischen Charakters bewusst oder unbewusst viele Menschen.
Dadurch gelang es dem Nationalsozialismus, den Gedanken der
Ungleichheit der Rassen und der Völker zu beleben und soweit
zu verbreiten, dass rassistische Diskriminierung kaum noch
abgelehnt wurde. Derart legitimierte diese "nazistische
Transformationsmoral", wie Zimmermann sie bezeichnet, auch die
Aufhebung des fünften Gebotes und ebnete sowohl den Weg zum
Massenmord in den Gaskammern als auch für die
Ausrottungspolitik vor allem im Osten.
Willenslos und gehorsam
Hitler sprach von der "ungeheuren Umwälzung der
Moralbegriffe". Für die Nazis war es legitim zu töten.
Sie sahen sich berechtigt zum Völkermord. Indem sie ihn
durchführten, kündigten sie das Moralgesetz, so dass
seither ein Riss durch das moralische Bild des Menschen geht. Es
entstand ein Gattungsbruch, der auf der anderen Seite von einem
Gattungsversagen kündigt. Denn das NS-Erziehungsprogramm,
dessen Vorhut die SS-Totenkopfverbände waren, treibt das
Gewissen einfach aus und produziert einen ebenso gewissenlosen wie
gehorsamen Menschentyp.
Jenseits dieser zweifellos treffenden Diagnosen, die gerade
deshalb Beachtung verdienen, damit man den Holocaust nicht
weiterhin bloß als ethisch irrational und unverständlich
qualifiziert, bemüht sich Zimmermann auch um die ethischen
Konsequenzen dieser Analyse für Politik und Gesellschaft.
Natürlich plädiert er für eine Erneuerung des
Universalismus, allerdings nicht als ein Modell idealer Werte,
sondern aus seiner konkreten historischen Entwicklung heraus, die
der Nationalsozialismus ja stoppen wollte.
Mit einem derartigen historischen Universalismus möchte der
Autor vor allem den Sozialwissenschaften einen ethischen Sinn
verleihen. Natürlich beruht solcher Sinn der
Sozialwissenschaften auf ihren empirischen und analytischen
Resultaten, die sich an Max Webers berühmtem Postulat der
Wertfreiheit orientieren. Genau durch ihre Objektivität aber
sollen die Sozialwissenschaften dazu beitragen, die politische
Urteilskraft der Bürger und deren gesellschaftlich rationale
Weltinterpretation zu stärken.
Denn Demokratie gründet für Zimmermann im Anschluss an
John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit als Fairness und Jürgen
Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns in einem moralischen
Individualismus. Der Einzelne muss seine moralischen Urteile selbst
fällen, auch wenn er sich vorgegebenen ethischen Konzeptionen
anschließt. Doch dass der Einzelne dazu in der Lage ist,
verdankt er den universalen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit.
Der moralische Individualismus erweist sich somit als ein
Universalismus. Im Zusammenspiel von Politik und
Sozialwissenschaften soll die universelle Menschheitlichkeit, die
der Holocaust zerstörte, zurück gewonnen werden.
Rolf Zimmermann
Philosophie nach Auschwitz.
Eine Neubestimmung von Moral in Politik und
Gesellschaft.
Rowohlts Enzyklopädie, Reinbek 2005; 268 S., 12,90
Euro
Zurück zur
Übersicht
|