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Claudia Heine
Editorial
Bundespräsidenten erschrecken die Zuhörer eher selten
mit ihren Reden. Meist haben sie staatstragende Dinge zu
verkünden, die dem gesellschaftlichen Konsens verpflichtet
sind. Am 8. Mai 1985 irritierte der damalige Bundespräsident
Richard von Weizsäcker mit seiner Rede vor dem Deutschen
Bundestag aber einige seiner Zuhörer. In seiner Ansprache zum
40. Jahrestag des Kriegs-endes bezeichnete er den 8. Mai als einen
Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Wie sehr eine solche
Sichtweise in der Bundesrepublik umstritten war, zeigte die durch
die Bemerkung ausgelöste öffentliche Debatte über
den Umgang mit der Nazi-Vergangenheit. Bisher hatte die Darstellung
des 8. Mai als Tag der Niederlage und Katastrophe überwogen.
Weizsäcker hatte eine Lanze gebrochen, von nun an war es
leichter, von einer Befreiung zu reden.
In der DDR hatte man sich dieser Sprachregelung von Anfang an
und ganz offiziell bedient. Es war klar, dass ein Staat, der sich
auf den Antifaschismus als einen seiner Legitimationskerne berief,
vom Tag der Befreiung sprechen musste.
Der 8. Mai 1945 befreite nicht nur die Deutschen endgültig
von einem verbrecherischen Regime. Er befreite mit ihnen auch das
von den Nationalsozialisten unterdrückte und zerstörte
Europa. Eine Katastrophe war dieser Tag nicht, vielmehr zeigte sich
das katastrophale Ausmaß des von den Nazis angezettelten
Weltkrieges und seiner menschenverachtenden Ideologie nun in voller
Wucht. Europa stand in Trümmern, doch dort konnte es nicht
stehen bleiben. Es begann nicht nur eine territoriale Neuordnung
entlang der alliierten Einflussgebiete. Es begann zugleich die
politisch-ideologische Spaltung des Kontinents in Ost und West. Es
begann das Zeitalter des Kalten Krieges.
Auch wenn die Konfrontation zwischen den Supermächten USA
und Sowjetunion der Zeit nach 1945 für Jahrzehnte den Stempel
aufdrücken sollte: die Welt rückte dennoch näher
zusammen. Die Gründung der Vereinten Nationen sollte
verhindern, dass noch einmal ein Land in einem Angriffskrieg seine
Nachbarn überfällt. Mit der Verkündung der
universalen Menschenrechte erhob die internationale
Staatengemeinschaft den Anspruch, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, wie sie in den Jahren 1933 bis 1945 vor allem an
den Juden begangen wurden, zu verhindern.
Mit dem Epochejahr 1945 begann weltweit das Ende der
Kolonialherrschaften. In Afrika und Asien befreiten sich die
Menschen von jahrhundertealter Bevormundung durch fremde Staaten.
Es sollte sich jedoch zeigen, dass damit die Ungleichheit nicht
beendet wurde. Zu tief waren die Narben, die die Fremdherrschaft
dort hinterlassen hatte. Armut und wirtschaftliche
Rückständigkeit prägten die jungen Staaten; man
sprach nun von Entwick-lungsländern oder der "Dritten Welt".
Armut prägen sie auch heute, im Zeitalter der
Globalisierung.
Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 läutete eine
neue geschichtliche Ära ein. Gerade der weitgehend friedliche
Verlauf der Umbrüche in Osteuropa machte Hoffnung auf ein
neues Zeitalter des Friedens jenseits ideologischer Blockbildungen.
Allerdings sollte diese Hoffnung bald schwinden. Neue Kriege, vor
allem innerstaatliche Konflikte wie in den Kaukasusrepubliken der
ehemaligen Sowjetunion oder die Balkankriege der 90er-Jahre
erschütterten die Welt. Nicht zuletzt deshalb, weil die UNO
ihrer Rolle als Friedensstifter und Friedenswahrer oft nicht
gerecht werden konnte. Zu einer ihrer größten
Herausforderungen sollte jedoch der von den USA verkündete
Kampf gegen den Terrorismus werden. Nach den Anschlägen vom
11. September 2001 tauchte ein neues Feindbild am weltpolitischen
Horizont auf: islamistische Fundamentalisten sagten der westlichen,
gottlosen Welt den Kampf an. Und umgekehrt verteidigt diese seitdem
ihre Freiheit mit erheblichen Einschränkungen von
Bürgerrechten. Welche Rolle kann die UNO in diesem Konflikt,
der kein staatlicher ist, künftig spielen?
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