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Friedrich Schorlemmer
Feindbilder überwinden
Was wir aus dem Zweiten Weltkrieg lernen
sollten
Ein gemeinsamer, möglichst kräftiger,
emotional aufgeladener, angstbesetzter und so zu besonderer
gemeinsamer Gegenwehr anspornender Feind samt Feindbild bindet eine
Gesellschaft - wie jede kleine oder größere Gemeinschaft
- offenbar kraftvoller zusammen als das jede positive Idee, jede
Utopie und jedes Leitbild vermag.
Jede Gesellschaft ist zur Hysterisierung
fähig, sowie sie sich auf ein kollektives Bedrohungsszenarium
verständigt, das sich an einem konkreten Anlass
entzündet, aber sogleich zur Generalisierung führt und
Abwehrreflexe mobilisiert. Zumal dann, wenn ein innerer Zerfall
droht, dient ein äußeres Bedrohungsszenarium der inneren
Stabilisierung, zumeist verbunden mit dem Abbau demokratischer
Freiheitsrechte. Wegen des gemeinsamen Kampfes gegen "den Feind"
müssten sie eben eingeschränkt werden.
Zudem müsste die Wachsamkeit der
Gesellschaft verstärkt werden, denn der innere Feind arbeitete
mit dem äußeren zusammen oder sei gar dessen fünfte
Kolonne. Wer da anfängt, zu differenzieren, macht sich
angeblich der Verharmlosung schuldig. Wer der Vereinfachung
entgegentritt, stört das nationale Volksempfinden, wird
unpatriotischer, vaterlandsverräterischer beziehungsweise
antiwestlicher oder antikommunistischer Gesinnungen
bezichtigt.
Feindbilder gehören zur Munitionierung
eines Gemeinwesens, das sich von anderen abzusetzen und durch den
Kampf gegen andere seine Stärke zu gewinnen sucht. Der Tod der
Feinde ist stets ein gerechter Tod, bis hin zum zeitlich und
räumlich unbefristeten Kreuzzug gegen die "Achse des
Bösen". Dieser Feind liefert seine abschreckenden Bilder und
Symbole zur Bestätigung des Bildes, das man selber brauchte.
Man denke nur an Nordkorea oder den Iran.
Grundmuster, typische Merkmale des
Feindbildes, sind immer wieder Misstrauen, Schuldzuweisung,
negative Antizipation, Identifikation mit dem Bösen,
De-Individualisierung und jegliche Empathie-Verweigerung. Hinter
allem steht eigene Unsicherheit und Unfähigkeit,
Identität positiv zu konstituieren. Wer sich nicht positiv
definiert, muss sich negativ konstituieren und nach außen
verlagern, was man an sich selber nicht ertragen kann. In der
Feindbildproduktion kulminieren Identitäts-, Projektions- und
Wahrnehmungsprobleme. Das gilt für Individuen wie für
ganze Gesellschaften. Eine reife Gesellschaft, die auf das
mündige Individuum, auf Konsenssuche nach Regeln, auf
Selbsterkenntnis und Einfühlung in Fremdinteressen bezogen
bleibt, kann ohne Feindbilder existieren.
Max Frisch hatte in seiner Friedenspreisrede
1976 erklärt: "Eine friedensfähige Gesellschaft wäre
eine Gesellschaft, die ohne Feindbilder auskommt. Es gibt Phasen,
wo wir nicht ohne Auseinandersetzung auskommen, nicht ohne Zorn,
aber ohne Hass, ohne Feindbild: wenn wir (einfach gesprochen)
glücklich sind oder zumindest lebendig ... und durch eine Art
des Zusammenlebens von Menschen, das Selbstverwirklichung
zulässt. Freiheit nicht als Faustrecht für den Starken,
Freiheit nicht durch Macht über andere. Selbstverwirklichung
oder sagen wir: wenn es möglich ist, kreativ zu leben. Noch
immer sind wir weit davon entfernt, noch immer hoffen wir und
glauben an die Möglichkeit des Friedens. Dies bleibt ein
revolutionärer Glaube." Voraussetzung für den Frieden ist
weiterhin der Abbau von Feindbildern, der unermüdliche
Versuch, die Ursachen von Feindschaften auszuräumen und
gemeinsam mit der Stärke des Rechts gegen die zu stehen, die
auf der Klaviatur von Gewalt, destruktiver Stärke,
Überlegenheit, Omnipotenz- phantasien oder
religiös-apokalyptischen Zerstörungsszenarien
leben.
Eine Gesellschaft, die kein lohnendes
gemeinsames Ziel mehr benennen kann, muss wenigstens einen Feind
haben und im Kampf gegen diesen einig sein und alle Kräfte
mobilisieren. Wer da kritisch rückfragt, wird leicht als
(unbewusster) Agent des Feindes denunziert oder mindestens
verdächtigt, jenem "objektiv" in die Hände zu arbeiten,
ihm vorwerfend, er würde die Gefahr verharmlosen und mache
sich mitschuldig an künftigem Unglück.
Wer 40 Jahre im kommunistischen System gelebt
hat, kennt diese Mechanismen und ist nur etwas verwundert
darüber, wie strukturparallel solche Vorgänge
offensichtlich selbst in demokratischen Gesellschaften ablaufen.
Die Strategie besteht stets darin, dem Gegner alles zu
unterstellen, was böse ist und sich selbst auf der Seite "der
Guten" zu sehen.
Es werden eiligst Etiketten verteilt: Wer
gegen Bush ist, wird des Antiamerikanismus verdächtigt.
"Dahinter" werden alte Vorurteile vermutet, die auch noch
antisemitische Anteile hätten. Wer will da nicht eiligst
beteuern: Nein, nein, nein, ich weiß, was wir Amerika
verdanken und wie existentiell diese Freundschaft für uns war
und ist … Eine wirkmächtige nachwirkende Kampfparole gab
Donald Rumsfeld mit dem Diktum "altes Europa" aus, dass man doch
eigentlich abschreiben könne. Monatelang schien - glaubt man
den Zeitungen - die deutsche Politik um einen Händedruck zu
betteln. Aber Freundschaft sieht anders aus, es sei denn, sie
bedeute Gefolgschaft. Wenige reagieren so souverän wie Peter
Zadek, wenn sie nach ihrem Antiamerikanismus gefragt werden. "Bush
hat bei seinem Feldzug im Irak die Mehrheit der Amerikaner hinter
sich. Man darf also durchaus gegen die Amerikaner sein, so wie im
Zweiten Weltkrieg der größte Teil der Welt gegen die
Deutschen war. In diesem Sinne bin ich Antiamerikaner" (Spiegel
29/03).
Aber lässt sich mit so einem Vergleich
eine ideologisch aufgeladene Debatte versachlichen? Und müsste
man dann nicht auch "Antirusse" werden, wenn man die Zustimmung in
Russland zu Putins Tschetschenienpolitik betrachtet - und was
vernebelt da eine Männerfreundschaft, die weniger
Menschenrechte als vielmehr deutsche Interessen im Blick hat?
Präsident Putin agiert, in geradezu zaristischer Manier, nach
innen mit harter Hand und Präsident Bush ist weit davon
entfernt, zu spüren, wie sehr er, mit seinem Denken einstigen
und heutigen Gegnern zu gleichen anfängt, indem er
manichäisches Denkmuster von Gut-Böse, Wahr-Falsch,
Freund-Feind adaptiert, das schließlich aus dem persischen
Raum stammt. Geradezu verheerend wirkte sein Diktum: "Wer nicht mit
uns ist, der ist mit den Terroristen". Da gibt es nur noch ein
Ja-Nein, ein Freund-Feind! Wer amerikanische Bush-Politik
kritisiert, wird flugs des Anti-Amerikanismus verdächtigt. Wer
Sharons Siedlungspolitik in der Westbank oder die
Vergeltungsübergriffe in Dschenin kritisiert, riskiert den
Antisemitismusvorwurf. Wer Großunternehmer
kapitalismuskritisch aufs Korn nimmt, ist mindestens ein
Kommunist.
Kommunisten kannten dieses Muster auch und
spielten darauf mit der Leninischen Drohfrage: Wer - Wen? Das
ideologisch untermauerte Feindbild vom aggressiven Imperialismus
konnte alles rechtfertigen. Ein festgezurrtes Feindbild vereint
angst- oder machtvoll, lässt jedwede Aktionen stets
politisch-strategisch stimmig und im Volke zustimmungsfähig
werden. Unsere demokratischen Gesellschaften werden alles daran
setzen müssen, nicht selber archaischen Freund-Feind-Schemen
zu verfallen und so auf eine subtile oder grobe Weise in das
Feindschema zurückzufallen, das Carl Schmitt zum Grundmuster
jeder Politik erklärt hatte.
Es gilt indes, ganz nüchtern
festzustellen, dass es Feinde gibt, denen eine demokratische offene
Gesellschaft nicht passt und die ihre (terroristischen) Aktionen
mit diversem ideologisch-religiösen Überbau garnieren.
Demokratien, die sich auf die Verwirklichung der Allgemeinen
Menschenrechte als einem ständig gefährdeten und zugleich
lohnenden Ziel einlassen, muss daran gelegen sein, im Kampf gegen
die Feinde ihres Gesellschaftsmodells nicht die Handlungsprinzipien
ihrer Gegner allmählich zu übernehmen -, indem dies mit
dem einzig wirksamen Kampf gegen den Feind gerechtfertigt
wird.
Ein Feind kann dazu motivieren oder zwingen,
besser zu sein als er. Um die Propaganda der Gegenseite im
"Wettkampf der Systeme" zu entkräften, nötigte das
kommunistische Weltsystem dem demokratisch-kapitalistischen Westen
soziale Leistungen ab, die nun wieder einkassiert werden, nachdem
diese Infragestellung weggefallen ist. Und die beiden letzten
Golfkriege hätten wohl nicht stattgefunden, wenn es das
Gleichgewicht des schrecklichen Schreckens noch gegeben hätte.
Insbesondere die westliche Führungsmacht hat inzwischen ihre
Führungs- und Vorbildfunktion so eingebüßt, dass
Freiheits- und Menschenrechte zum missbrauchten Kampfbegriff
geworden sind und das Völkerrecht dem Recht des Stärkeren
im Ernstfall weichen muss.
Die Gefahr in jeder Auseinandersetzung mit
einem "Feind" besteht darin, dass man sich ein Bild von ihm macht
und alle, die ihm zugehören so sehr generalisiert beurteilt,
dass die so Etikettierten tatsächlich so werden (müssen),
wie man von ihnen denkt, - ohne noch zu merken, wie ähnlich
man im Kampf mit dem Gegenbild diesem wird.
Der Kampf gegen "den Islam" als Kampf gegen
islamistisch-aggressiven Fundamentalismus ist eine Gefahr für
die Substanz unserer laizistisch beziehungsweise säkularen
demokratischen Gesellschaften.
Brauchen wir wieder Feindbilder? Oder
kämpfen wir gegen reale Feinde? Feindbildzertrümmerung
ist eine zu jeder Zeit von allen abverlangte zivilisatorische
Leistung - es sei denn, man bliebe sich einig in seinen
Vor-Urteilen: die Amerikaner sind arrogant und geschmacklos, die
Russen gefährlich und grob, Muslime fundamentalistisch und
tendenziell terroristisch, die Ukrainer mafiös, die Wessis
großfressig, die Ossis jammersüchtig, die Katholiken
falsch, die Protestanten freudlos, die Politiker machtgeil, die
Parteien opportunistisch, die Unternehmer gewinnsüchtig, die
Gewerkschafter betonköpfig, die Militärs gewissenlos,
Kommunisten unbelehrbar, Frauen sind… Männer sind…
Türken sind… Journalisten sind… Nur wir selbst
sind ganz in Ordnung!
Friedrich Schorlemmer ist Studienleiter an der Evangelischen
Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg.
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