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Tobias Asmuth
Der verärgerte Mann am Bosporus
In der Türkei steht die Stimmung zu einem
EU-Beitritt auf der Kippe
Ein so gutes Geschäft hat Kasim lange Jahre nicht mehr
gemacht, zuletzt 1983 bei den ersten freien Wahlen nach der Zeit
des Militärregimes. Wie damals versinkt Ankara heute in einem
Meer aus roten Fahnen, schmücken Halbmond und Stern Fenster
und Balkone, hängen Flaggen aus Stoff und Papier in den
Läden und Büros. Auf jedem größerem Platz
stehen die Verkäufer wie Kasim und sorgen für Nachschub.
Auf alten Einkaufswagen bieten sie den patriotischen Schatz eines
jeden Türken in verschiedenen Größen an, von der
kleinen Standarte für den Konferenztisch bis zur zwei auf vier
Meter großen Flagge für das Dach. Die Türken, sagt
Kasim, lieben ihr Land wie ihre Mutter.
Der Virus, der sehr zur Freude Kasims das rote Fieber
auslöst, ist Anfang März dieses Jahres in Mersin
ausgebrochen. Auf einer Demonstration in der anatolischen
Provinzstadt versuchten zwei kurdische Jugendliche, eine
türkische Flagge zu verbrennen, direkt vor den
Kameraobjektiven der anwesenden Fernsehteams. Seit die Bilder
abends in die Wohnzimmer von Istanbul, Izmir und Ankara
ausgestrahlt wurden, schwappt eine nationale Welle durch das Land,
die Stolz und Wut nicht kleiner werden lassen. Die Reformen
hätten den Staat geschwächt, nur deshalb konnte es
überhaupt zum Fahnen-Frevel kommen, verkündeten
Generäle, und warnten davor, dass sich Europa zu sehr in die
innern Angelegenheiten des Landes einmische. Erst komme immer die
Republik Atatürks, erst dann die Europäische Union. Mit
dem Angriff auf Brüssel trafen die Militärs einen
sensiblen Punkt. "Viele Türken haben das Gefühl, dass
Europa unsere Anstrengungen egal sind", sagt Professor Ihsan Dagi
von der Technischen Universität Ankara. Der
Politikwissenschaftler verfolgt den Prozess der Annäherung der
Türkei an Europa seit Jahrzehnten. "Es ist das erst Mal seit
den 90er-Jahren, dass die Zustimmung der Türken zum Beitritt
zur Europäischen Union um über zehn auf nun 63 Prozent
gesunken ist."
Nachdem Premier Recep Tayyip Erdogan in den vergangenen zwei
Jahren eine Gesetzesänderung nach der anderen durch das
Parlament gebracht hatte, um sein Land fit für die
Verhandlungen mit Brüssel zu machen, wirkte seine Regierung in
den vergangenen Monaten regelrecht erschöpft. "Wir haben uns
vielleicht eine kleine Auszeit genommen", gesteht Egemen Bagis,
außenpolitischer Berater Erdogans, ein, "aber Europa steht
immer noch ganz oben auf unser Agenda." Schlimmer als die
Reformpause findet Dagi sowieso, dass Erdogan dem Land das
Gefühl vermittelt habe, Europa sei ebenfalls noch nicht reif
für die Türkei. Seine offen zur Schau getragene
Enttäuschung über die reservierte Haltung gegenüber
den Türken in vielen europäischen Ländern kam der
nationalen Opposition gerade Recht. Schon lange fürchten
konservative Kreise in Politik und Gesellschaft sowie das
selbstbewusste Militär um das Erbe des Staatsgründers
Kemal Atatürk. Die Debatte um den 90. Jahrestag des
Völkermords an den Armeniern gilt ihnen nur als ein weiterer
Beleg für ihre These, dass Europa die nationale Einheit der
Türkei bedrohe.
Enttäuscht von den Freunden in Europa gibt sich in diesen
Tagen auch Onur Öymen, Vize-Präsident der
größten Oppositionspartei, der konservativen CHP. "Die
Einmischung in unsere Geschichte ist inakzeptabel", sagt Öymen
im World Trade Center, einem der vielen schmucklosen
Bürogebäude Ankaras. Es brauche keine neue historische
Forschung, es stehe schon fest, dass, wenn es überhaupt einen
Völkermord gegeben habe, dieser von Armeniern an den
Türken verübt worden sei. Auch mit Ratschlägen in
der Kurdenfrage solle sich Europa besser zurückhalten, findet
Öymen, denn schon jetzt sei eine Grenze der Einmischung
erreicht: "Wir haben in diesen Dingen ein Gedächtnis wie ein
Elefant."
Die vier großen Tabus
Für den Journalisten Ragip Duran aus Istanbul sind solche
Töne altbekannt. Noch immer gebe es in der Türkei vier
große Tabus: Der Völkermord an den Armeniern, die
Kurdenfrage, die Rolle des Militärs und die Vaterfigur
Atatürks. "Die Annäherung an Europa berührt alle
diese vier Punkte." Diese Hindernisse auf dem Weg in die
Europäische Union könne die Regierung nicht einfach per
Gesetz aus dem Weg räumen. "Der Wandel in den Köpfen der
Menschen dauert eben länger", sagt Duran, "vielen Türken
ist gar nicht klar, dass die Zugehörigkeit zu Europa eine
ständige Einmischung aus Brüssel bedeutet." Ihr Stolz und
ihre Reizbarkeit würden den Prozess der Anpassung an Europa
immer wieder bremsen. Im französischen Referendum über
die europäische Verfassung sieht Duran deshalb die
nächste Bewährungsprobe für den türkischen
Traum von Europa. Wenn die Franzosen ablehnten, werde es für
die Regierung enger. "Ein 'Non' zur Verfassung bedeutet für
uns ein 'Non' zum EU-Beitritt der Türkei." Im Augenblick liege
das Schicksal Erdogans ein bisschen in den Händen der
Franzosen, findet Duran.
Auch Beobachter der Europäischen Union in Ankara
fürchten, dass bei einem Nein der Franzosen die
europäischen Pläne der Türkei weiter an Glanz
verlieren könnten. Es habe in der Vergangenheit überall
Fortschritte gegeben, berichtet Martin Dawson von der Delegation
der Europäischen Kommission in der Türkei. Für die
Minderheiten wird in den Schulen jetzt auch Sprachunterricht in
Kurdisch oder Arabisch angeboten, und es gibt kurdische Fernseh-
und Radiosendungen. Die Frauenrechte wurden gestärkt, Vergehen
der Polizei verfolgt, die Folter zurückgedrängt. Bei
einem derartigen Modernisierungtsschub sei es fast normal, dass das
Pendel auch einmal in die andere Richtung ausschlage. Entscheidend
sei nur, dass der Reformprozess nicht gestoppt werde. Die neuen
Gesetze brauchten Zeit, um ihre Wirkung zu entfalten. Man
dürfe die Türkei auf diesem Weg nicht überfordern,
auch wenn er sich im türkischen Fahnenmeer manchmal ein wenig
einsam vorkomme. Kein Wunder: Die blaue Fahne mit den goldenen
Sternen verkauft Kasim noch nicht. "Vielleicht in zehn Jahren, wenn
wir dazu gehören sollten."
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