|
|
Frauke Hamann
Gleichermaßen Schadenfreude und
Anteilnahme
NS-Stimmungsberichte über die Juden in
Deutschland
Die Quellen sind eindrucksvoll. Beginnend am 10.
März 1933, endet die Sammlung am 31. März 1945 - sie
umfasst 3.744 geheime NS-Stimmungsberichte zu den Juden in
Deutschland. Die Stellungnahmen von deutschen Bürgermeistern,
Landräten und Regierungspräsidenten, von Gendarmerien und
NSDAP-Kreisleitungen, von Außenstellen des Sicherheitsdienstes
(SD) und Feldpostprüfstellen verdeutlichen, welch
unterschiedliche Reflexe die antijüdische Politik des
NS-Regimes auslöste.
Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel haben
erstmals zusammengestellt, was über Juden in den geheimen
NS-Stimmungsberichten zwischen 1933 und 1945 vorkommt. Das Buch
enthält rund ein Fünftel aller Dokumente, die
beigefügte CD-ROM den gesamten Textkorpus. Keine Gemeinheit
und Niedertracht fehlt, doch auch Mitgefühl und
Unterstützung für die jüdische Bevölkerung gibt
es.
Vom "Druck der deutschgewordenen Umwelt" auf
die Juden ist ebenso die Rede wie von "Eigenmächtigkeiten" der
SA und SS. 1935 spricht die Stapostelle Berlin vom "mehr und mehr
rassisch denkenden Volke"; im hessischen Gladenbach hat sich die
"Volkswut" an drei von Juden bewohnten Häusern ausgelassen,
die Gebäude unter Wasser gesetzt und unbewohnbar
gemacht.
Ob Provinz oder Metropole, ob Dorf oder
Kleinstadt, die vorliegenden Dokumente zeigen gleichsam in
Nahaufnahme die Bandbreite menschlichen Verhaltens analog zum
verschärften antisemitischen Kurs des Regimes. Eine Zeittafel
ist den chronologisch geordneten, in 14 Kapiteln gegliederten
Quellen beigefügt, die sich lesen wie die plastische, konkrete
Version der planvollen, immer weiter ausgreifenden Stigmatisierung,
Entrechtung und schließlich der Vernichtung. Die Deutschen
verhalten sich brutal, egoistisch, korrupt, doch auch
widersetzlich. Die Menschen stünden der antisemitischen
Propaganda "ziemlich verständnislos gegenüber",
heißt es, aber auch, das Volk sei während der so
genannten Reichskristallnacht "restlos in der Hand der Partei"
gewesen und hätte sie einmütig
gutgeheißen.
Die "wahre Genugtuung" über die
Verordnung zum Tragen des Judensterns wird ebenso gemeldet wie die
Einschätzung, sie werde "allerdings nur in Kreisen
konfessionell fest gebundener älterer Menschen" abgelehnt.
Dass in Bremen 1938 der Name "Sinaistraße" moniert und um
"Beseitigung" gebeten, dass im selben Jahr Juden im Ratskeller der
Hansestadt nicht der Zugang verwehrt wird, davon handeln zwei
Meldungen des zuständigen Kreispropagandaamtes.
Während die Bevölkerung von
Euerbach, Mainfranken, 1942 "die Beseitigung der Juden als eine
Wohltat" empfinde, hätten sich in Lemgo anlässlich des
Abtransports der Juden zahlreiche Bürger auf dem Marktplatz
versammelt und "die Maßnahme allgemein negativ kritisiert". Im
Verlauf des Zweiten Weltkriegs, als die Verfolgung der Juden in die
systematische Vernichtung mündet, werden Schuldgefühle
laut und die "Terrorangriffe" auf deutsche Städte auch als
Menetekel gedeutet für "den Frevel der Reichskristallnacht und
der Judenvertreibung".
Die Stimmungsberichte ermöglichen
diverse Lesarten: Sie können vergleichend gelesen werden, um
mehr über die Wahrnehmung eines Phänomens oder
Ereignisses zu erfahren; sie können auf einen bestimmten
Zeitraum bezogen werden, um die Beobachtungen in verschiedenen
Regionen und seitens unterschiedlicher Behörden zu erfassen,
und sie können gelesen werden, um Aufschluss über
Qualität und Zuverlässigkeit von Berichten zu
geben.
Die Berichtssysteme im NS-Staat waren ebenso
Instrumente zur Informationsbeschaffung über die eigene
Bevölkerung wie zu deren Überwachung. Das sollte bei der
Lektüre gegenwärtig sein: Diese Quellen dienten der
Legitimationsbeschaffung eines totalitären Systems, sie sind
getränkt mit den Weltbildern und Wahrnehmungsrastern
indoktrinierter und antisemitisch manipulierter Menschen. Die
Stimmungsberichte zeugen von ideologischer Verblendung und
antisemitischem Eifer, die sich auch sprachlich austoben,
beispielsweise wenn von "noch vorhandenen jüdischen Resten"
die Rede ist. Beobachter und Beobachtete waren weder frei noch frei
informiert, was explizit thematisiert wird: "Auch bei unserer
eigenen Presse ist man sich weitgehend dessen bewusst, dass die
Nachrichten und Kommentare immer unter bestimmten Gesichtspunkten
abgefasst sind."
Die Publikation bietet eine beklemmende,
gleichwohl erhellende Lektüre. Sie gibt Einblicke in eine
Gesellschaft, die zur Segregation, Separation und Vernichtung der
jüdischen Bevölkerung fähig war. Welchen Eifer sie
dabei zeigte, aber auch welche Skrupel - beides verdeutlicht diese
wichtige Edition. Die Herausgeber sagen nicht zuviel, wenn sie
anhand dieser Dokumente eine Neubewertung der Frage für
möglich halten, was die deutsche Bevölkerung von der
Endlösung der Judenfrage gewusst habe. Eines halten sie
jedenfalls für unabweisbar: "Die Einstellung der deutschen
Bevölkerung zu den antijüdischen Maßnahmen des
Regimes hat die Entscheidungen in der Judenpolitik mitbeeinflusst
oder mitbeeinflussen können."
Otto Dov Kulka, Eberhard Jäckel
(Hrsg.)
Die Juden in den geheimen
NS-Stimmungsberichten 1933 - 1945.
Droste Verlag, Düsseldorf 2004; 894
Seiten plus CD-ROM, 74,90 Euro
Zurück zur Übersicht
|