Enrico Syring
Wohltuend sachliche Darstellung
Krieg und Nachkriegszeit in Deutschland und
Polen
So viel Geschichte war nie. In den Medien jagt
ein historischer Jahrestag den nächsten. Entgegen mancher
Befürchtungen hat die Präsenz der nationalsozialistischen
Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges nicht ab-, sondern deutlich
weiter zugenommen. In Anlehnung an den Historiker und Journalisten
Jochen Thies ließe sich gar formulieren, das Dritte Reich
wiederhole sich in den Medien stets aufs neue. Leitlinien sind
dabei die "runden" Gedenktage: die 40., 50., 60. und inzwischen
auch die 70. Denn die Gedenkzyklen überschneiden sich: Wenn
auch 2005 überwiegend vom 60. Jahrestag des Endes des Zweiten
Weltkrieges in Europa geprägt wird, so jähren sich Mitte
September doch etwa auch die "Nürnberger Rassengesetze" zum
70. Mal.
Freilich fällt das Gedenken an das
Kriegsende noch immer zwiespältiger aus als das an andere
Markierungspunkte aus der Geschichte des nationalsozialistischen
Deutschlands. Zwar hat sich der vor zehn Jahren noch heftig
diskutierte Dualismus "Befreiung oder Niederlage" stillschweigend
zugunsten des erstgenannten Begriffs aufgelöst. Gleichwohl
lassen zumindest diejenigen deutschen Zeitzeugen, die den Einmarsch
der Roten Armee miterlebt haben, hier weiterhin Vorbehalte
erkennen. Kurzum: Die Erinnerung an den 8. Mai 1945 ist mit Blick
auf unsere östlichen Nachbarn nach wie vor komplizierter und
in sich gebrochener als hinsichtlich unserer westlichen. Genau da
liegt der Ansatzpunkt der beiden hier vorzustellenden
Neuerscheinungen.
Die Berliner Zeithistorikerin Elke
Scherstjanoi dokumentiert in ihrem Sammelband zunächst auf
rund 190 Druckseiten Feldpostbriefe, Befehle und Berichte ins
Deutsche Reich einmarschierender Rotarmisten vom Oktober 1944 bis
Ende Juni 1945. Es mag an der deutschen Übersetzung wie an der
auch in anderen Armeen zu beobachtenden vorauseilenden Selbstzensur
der Briefeschreiber liegen, dass die meisten dieser Quellen
befremdlich unpersönlich und wie aus vorgefertigten
Versatzstücken zusammengefügt wirken. Offenbar wollte man
der Militärzensur von vornherein nur das zu lesen geben, was
diese mutmaßlich auch zu lesen wünschte oder durchgehen
ließ.
Sowjetische Kriegsverbrechen werden daher nur
sehr selten und, wenn überhaupt, nur höchst abstrakt als
Rache für Erlittenes angedeutet. Der Rotarmist, der aus der
Mehrzahl der abgedruckten Briefe spricht, ist korrekt und
opferbereit, liegt stets auf der jeweils aktuellen politischen
Linie und tritt der deutschen Bevölkerung in stolzer
Überlegenheit gegenüber.
Hass und Verachtung
Gerade an diesem Punkt, in der Schilderung
der deutschen Bevölkerung, trifft der Leser aber nicht selten
auf Formulierungen mit deutlich rassistisch angehauchten
Implikationen. "Ach, wie sind sie [die Deutschen] uns allen
zuwider. […] Besonders hier auf preußischem Boden. Um
das so richtig zu verstehen und zu fühlen, muß man dieses
Land und diese Leute gesehen haben. Stumpf und ekelerregend.
Äußerlich Menschen, aber in Wirklichkeit Tiere, bereit zu
jeder Gemeinheit", schreibt beispielsweise ein sowjetischer
Garde-Hauptmann Anfang März 1945 an seine Ehefrau. Und er ist
mit dieser Sichtweise kein Einzelfall.
Im zweiten Teil ihres Buches sind neun
vorzügliche Aufsätze zu Fragestellungen der Endphase des
deutsch-sowjetischen Krieges zusammengetragen. Unter diesen sind
drei ganz besonders hervorzuheben: Bernhard Fisch versucht, auf
seine 1997 erstmals veröffentlichten Forschungen
zurückgreifend, nochmals zu rekonstruieren, was im Oktober
1944 wirklich im ostpreußischen Nemmersdorf geschehen ist. Er
arbeitet dabei überzeugend heraus, wie die Zeugenaussagen von
der Goebbelspropaganda im nachhinein verfälscht wurden. Nicht,
dass in Nemmersdorf Grauenvolles geschehen ist, wird von Fisch in
Zweifel gezogen, sondern ob es tatsächlich hinsichtlich
Quantität und Systematik jene Dimensionen aufwies, die ihm
seither zugeschrieben wurden.
"Die Russen kommen!"
Carola Tischler beschäftigt sich mit den
"Vereinfachungen des Genossen Ehrenburg" und kommt dabei zu dem
Schluss, das berüchtigte sowjetische Flugblatt mit dem
unverhüllten Aufruf zur Vergewaltigung deutscher Frauen werde
ihm fälschlicherweise zugeschrieben. Und Christel und
Klaus-Alexander Panzig zeigen unter dem Titel "Die Russen kommen!"
anhand deutscher Zeitzeugen auf, dass der Einmarsch der Roten Armee
von vielen als eine Zeit absoluter Unsicherheit und
Unberechenbarkeit erlebt wurde.
Die zweite Neuerscheinung stammt aus der
Feder des Warschauer Historikers Jerzy Kochanowski. Sein Thema sind
deutsche Kriegsgefangene in Polen 1945 - 1950. Zwar bereitet er dem
Fachhistoriker keine Überraschungen, doch handelt es sich bei
seiner Untersuchung in der Tat um die erste erschöpfende
Überblicksdarstellung zu diesem Komplex. Akribisch und
detailliert werden das (organisatorische) Umfeld und die
Lebenswelten der Gefangenen durchleuchtet.
Zu Recht lässt Kochanowski von Beginn an
keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Verhältnisse
im frühen Nachkriegspolen nicht nur für die rund 50.000
deutschen Kriegsgefangenen besonders schwierig waren. Zweimal war
der Krieg über Polen hinweggefegt: einmal mit dem deutschen
Überfall von 1939, das andere Mal beim Vordringen der Roten
Armee nach Westen 1944/45. Und die Besatzer in den Jahren
dazwischen waren vorrangig an der rücksichtlosen
Ausplünderung von Land und Leuten interessiert.
Kein anderes Land in Europa hatte so
furchtbar unter der deutschen Besatzung zu leiden wie Polen. Dass
man in Polen nach Kriegsende allem Deutschen zunächst mit
Vorbehalten begegnete, ist mithin durchaus nachvollziehbar. Zudem
muss die Westverschiebung Polens mit den umfangreichen
Umsiedlungsmaßnahmen auch für Polen die ohnehin
prekäre Lage noch zusätzlich kompliziert haben.
Allerdings schenkt der Autor diesem Aspekt keine
Beachtung.
Wenn aber Kochanowski die wirklich rauen
Lebensbedingungen der deutschen Kriegsgefangenen facettenreich
beschreibt, dann muss stets mit bedacht werden, dass es der
polnischen Zivilbevölkerung damals selbst nicht besser
ergangen ist. Es spricht für die Unvoreingenommenheit des
Verfassers, dass er sich nicht hinter diesem Argument versteckt,
wenn er ohne Wenn und Aber sehr kritisch mit dem polnischen
Kriegsgefangenenwesen nach 1945 in Gericht geht und unumwunden
feststellt, das Völkerrecht sei damals lange Zeit ignoriert
worden.
Alles in allem werden in beiden Büchern
beherzt und wohltuend sachlich für beide Seiten schmerzliche
Tabus im Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn
aufgebrochen. Wenn deutscherseits das Leid von Einmarsch, Flucht
und Vertreibung beschworen wird, darf dessen Vorgeschichte nicht
ausgeblendet bleiben. Gleichzeitig sind aber sowjetische
Kriegsverbrechen in Deutschland oder polnische
Großzügigkeiten im Umgang mit dem Völkerrecht
aufgrund eben dieser Vorgeschichte zwar in gewissem Gerade
"verstehbar", aber keineswegs zu rechtfertigen.
Elke Scherstjanoi (Hrsg.)
Rotarmisten schreiben aus
Deutschland.
Briefe von der Front (1945) und
historische Analysen.
Texte und Materialien zur Zeitgeschichte,
Bd. 14.
K.G. Saur Verlag, München 2004; 449
S., 110,- Euro
Jerzy Kochanowski
In polnischer
Gefangenschaft.
Deutsche Kriegsgefangene in Polen 1945 -
1950.
Aus dem Polnischen von Jan
Obermeier.
fibre Verlag, Osnabrück 2004; 521S.,
37,80 Euro
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