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Joachim Rogge
Referendum spaltet Franzosen
Volksbefragung über den Europäischen
Verfassungsvertrag in Frankreich
In knapp zwei Wochen stimmen die Franzosen
über die EU-Verfassung ab. Nachdem das Nein-Lager wochenlang
in den Umfragen vorne lag, zeichnet sich eine Trendwende ab: "Qui"
und "Non" liegen nach den jüngsten Umfragen dicht beieinander.
Doch Umfragen sind in Frankreich mit Vorsicht zu genießen -
die Fehlerquote liegt im Durchschnitt bei fünf Prozent. Auf
der Zielgeraden hat das Ja-Lager seine Anstrengungen nochmal
verstärkt.
Jean-Philippe hat schnell wieder aufgegeben.
In der Mitte der zweiten Spalte auf Seite eins hat der
37-jährige Internatsleiter aus dem französischen Norden
alle Lust an der Lektüre verloren. Nun liegt die
europäische Verfassung auf seinem Nachttisch. "Und ich denke
nicht, dass ich da noch einmal rein gucken werde." Eine Verfassung
liest sich eben nicht wie ein Krimi. Hunderttausenden von
Haushalten hat die französische Regierung ein 239 Gramm
schweres Buchpaket zugeschickt, in bester Absicht: Schließlich
sollen die Bürger wissen, worüber sie abstimmen. Gratis
liegt die Verfassung auch in den Postämtern aus. Und selbst in
den Buchhandlungen finden kommentierte und erläuternde
Verfassungstexte reißenden Absatz. "Der kleine
Verfassungsführer", "Erklär' mir die Verfassung",
"EU-Verfassung - was muss ich wissen?" - programmatische Titel wie
diese stehen seit Wochen an der Spitze der meistverkauften
Sachbücher in Frankreich.
Das Interesse ist hoch, auch wenn es wohl den
meisten Lesern spätestens nach den ersten Seiten so gehen
dürfte wie Monsieur Jean-Philippe. Im Vergleich zur eher
technokratisch dröge formulierten EU-Verfassung nehmen sich
das deutsche Grundgesetz oder die französische Verfassung
tatsächlich wie packende Literatur aus. Freilich: Daran wird
es nicht gelegen haben, wenn am 29. Mai tatsächlich eine
Mehrheit der Franzosen "Non" zu diesem europäischen
Vertragswerk sagen sollte. Die "Verfassungsfrage" spaltet
längst auch die Familien. Bei Mitterands etwa hängt der
Haussegen deshalb schief. Danielle Mitterrand, die 80-jährige
Witwe des ersten sozialistischen Präsidenten im
Nachkriegs-Frankreich, die schon immer einen eigenen Kopf zeigte,
lehnt den Text nach immerhin gründlicher Lektüre wegen
seiner "neoliberalen Vision" inzwischen ab. Mitterrands Sohn
Gilbert wiederum wirbt öffentlich für das "Oui". Roland
Dumas, Ex-Außenminister und einer der Weggefährten des
verstorbenen Präsidenten, ist sich sicher: "Mitterrand
hätte den Text genehmigt." Mit hohem persönlichen Einsatz
hatte Mitterrand das Maastricht-Referendum 1992, wenn auch denkbar
knapp, über die Hürden gehoben. Das
verpflichtet.
Auf Mitterrands Spuren wollte offenkundig
Amtsnachfolger Jacques Chirac wandeln, als er - ohne Not - im
letzten Jahr eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung
ansetzte. Es hätte ihm freigestanden, den Text
parlamentarisch, etwa gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag,
ratifizieren zu lassen. In diesem Fall wäre ihm eine satte
Zwei-Drittel-Mehrheit sicher gewesen. Und einmal mehr hätten
beide Länder mit einer derart unbestreitbar symbolisch starken
Geste ihre Rolle als europäische Gründerstaaten und
jahrzehntelanger Motor des europäischen Wagens unterstreichen
können. Nun ist das Referendum zur Zitterpartie für
Europa, für Chirac, aber auch das deutsch-französische
Tandem geworden.
Der Umfrage-Teufel, aber auch die geheiligte
gaullistische Tradition des Landes hatten Chirac offenkundig auf
die falsche Spur gelockt. Zum Zeitpunkt seiner Entscheidung
signalisierten die Meinungsforscher eine mehr als 60-prozentige
Zustimmung. Mittlerweile steht fest, dass der Präsident seine
eigene Popularität ebenso überschätzte wie die
Unbeliebtheit der Regierung unter Premier Jean-Pierre
Raffarin.
Vielen Franzosen juckt es in den Fingern, die
unpopuläre Regierung Ende Mai auch beim Europa-Referendum
abzustrafen. Und dass unsere Nachbarn bei Plebisziten seit jeher
gerne über Fragen abstimmten, die ihnen gar nicht gestellt
wurden, ist ohnehin eine Binsenweisheit.
Vor allem unter den jüngeren Franzosen
finden sich die höchsten Ablehnungsquoten. 66 Prozent der
Angestellten bis 34 Jahre, 75 Prozent der Arbeiter zwischen 25 und
34 Jahren geben vor, am 29. Mai mit "Nein" stimmen zu wollen. Das
ist Ausdruck der schlechten Stimmung im Land angesichts
schwindender Kaufkraft und wieder steigender Arbeitslosigkeit.
Jeder vierte Arbeitslose in Frankreich ist - anders als in
Deutschland - unter 25 Jahren.
Wie groß die Kluft zwischen dem
europäischen Pathos der Älteren und der europäisch
ernüchterten Jugend ist, hat Frankreichs Präsident zudem
selbst erfahren müssen. "Ich verstehe euch nicht", ließ
er sich frustriert in einer Diskussionssendung mit 80 jungen Leuten
zu einem aufschlussreichen Stoßseufzer hinreißen. Zudem
heizen die Verfassungsgegner von rechts- und linksaußen die
polemisch geführte Debatte mit aberwitzigen Behauptungen an.
So solle die EU-Verfassung etwa die medizinische
Gratis-Grundversorgung für Obdachlose verbieten, die
Wiedereinführung der Todesstrafe ermöglichen, die
Abtreibung kriminalisieren oder gar die 35-Stunden-Woche in Frage
stellen. Selbst Frankreichs kulturelle Ausnahmestellung, auf die
das Land zu Recht so stolz ist, solle im europäischen
Einheitsbrei untergepflügt werden. Kein Gerücht ist zu
absurd, um nicht doch geglaubt und weiter getragen zu
werden.
Die gut organisierten Interessengruppen, die
seit Monaten gegen die Verfassung trommeln, lassen sich ihren
Widerstand mit viel Geld abkaufen. Zudem verfangen die Argumente
des Präsidenten, der seine Landsleute nachdrücklich davor
warnt, Frankreich international zu schwächen. So etwas zieht
in Frankreich immer, auch wenn eine Mehrheit die Argumente der
Verfassungsgegner nach wie vor für überzeugender
hält.
Die Rückkehr des Polit-Rentners Lionel
Jospin in die politische Arena hat zudem einen erkennbaren
Meinungsumschwung an der sozialistischen Basis bewirkt.
Kräftig hat Jospin seiner Partei ins Gewissen geredet,
offensichtlich wirkungsvoll. Seither ist die Mehrheit für ein
"Ja" laut einiger Umfragen auf inzwischen stattliche 56 Prozent
gewachsen. Offenkundig wollen sich die traditionell
pro-europäischen Sozialisten nicht nachsagen lassen, dass es
ausgerechnet an ihnen gelegen hat, wenn das europäische
Gründerland Frankreich dem vereinten Europa Ende Mai den
Rücken kehrt.
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