Karl-Otto Sattler
Straßburger Urteil setzt Ankara unter
Druck
Öcalan-Prozess: Menschenrechtsgerichtshof
kritisiert Verstöße gegen rechtsstaatliche
Standards
Der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof hat nichts mit
der EU zu tun. Gleichwohl haben die Europarats-Richter mit ihrer
spektakulären Entscheidung, der Prozess gegen
Kurdenführer Abdullah Öcalan habe rechtsstaatliche
Prinzipien verletzt, in Ankara ein europa- und innenpolitisches
Beben ausgelöst. Will die Türkei die
EU-Beitrittsverhandlungen nicht gefährden, kommt sie um eine
von Straßburg nicht direkt angeordnete Wiederaufnahme des
Verfahrens gegen den als Staatsfeind Nummer eins geltenden
ehemaligen PKK-Chef kaum herum: Ohne rechtsstaatlich
funktionierende Justiz werden Ankara die Brüsseler Tore
verschlossen bleiben. Andererseits birgt ein neuer Prozess
innenpolitischen Sprengstoff in sich und dürfte die EU-Gegner
am Bosporus beflügeln: Für die Mehrheit der Türken
ist Öcalan, der seit seiner Verurteilung 1999 wegen
"Hochverrats" und "Bildung bewaffneter Banden" auf der Insel Imrali
in Isolationshaft sitzt, der Hauptverantwortliche für den
Guerillakrieg in den Kurdengebieten mit mehr als 30.000 Toten in
den 80er- und 90er-Jahren.
Der Gerichtshof wirft der türkischen Justiz beim Verfahren
gegen Öcalan mehrere gravierende Verstöße gegen die
in der Menschenrechtscharta des Europarats verankerten Standards
vor. Der Kurdenführer war 1999 in Kenia entführt, im
Flugzeug in die Türkei gebracht und dann in einem überaus
kurzen Prozess zur Todesstrafe verurteilt worden, die nach ihrer
generellen Abschaffung am Bosporus 2002 in lebenslange Haft
umgewandelt wurde. Ein zentraler Vorwurf der Straßburger
Entscheidung: Wegen der Mitwirkung eines Militärrichters
könne das Staatssicherheitsgericht, vor dem gegen Öcalan
verhandelt wurde, nicht als unabhängig und unparteiisch
gelten.
Massiv kritisiert die Kammer unter Präsident Luzius
Wildhaber (Schweiz) die vielfältige Behinderung der
Verteidigung des Ex-PKK-Chefs. So hatte Öcalan bei den
Verhören während des Polizeigewahrsams keinen Zugang zu
Anwälten. Später wurden die Gespräche der
Verteidiger mit ihrem Mandanten strikt limitiert und nur im Beisein
von Ordnungskräften erlaubt. Öcalan und seine
Anwälte erhielten nur mit erheblicher Verzögerung Zugang
zu Prozessunterlagen. Auch war der Kurdenführer nach seiner
Verhaftung erst nach über einer Woche Polizeigewahrsam einem
Richter vorgeführt worden. Die Todesstrafe sei zwar
später aufgehoben worden, doch markiere der psychische Druck
samt Angstzuständen wegen der Ungewissheit über deren
Vollstreckung einen Verstoß gegen das Verbot unmenschlicher
Behandlung. Die Regierung in Ankara muss Öcalan mit 120.000
Euro entschädigen.
In einer ersten Reaktion auf die Straßburger Schelte
deutete ein Regierungssprecher in Ankara eine Wiederaufnahme des
Verfahrens an. Zwecks Beruhigung der innenpolitischen Gemüter
rief Justizminister Cicek die Türken zur Besonnenheit auf. Es
gehe nur um "verfahrensrechtliche Fragen".
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