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Nicole Alexander
Ferne Länder im Klassenzimmer
Projekt "Grenzenlos" weitet Blick
An der Wand hängt eine Karte von Südamerika, aus dem
Kassettenrekorder dröhnt Samba-Musik. Die siebte Klasse des
Barnim-Gymnasiums in Ahrensfelde bei Berlin hat Sozialkunde und
blickt so konzentriert in Richtung Tafel, wie es sich ihr Lehrer
Holger Schaeffer nur wünschen kann. Der sitzt heute allerdings
ganz hinten im Klassenzimmer und hält sich vornehm
zurück. Denn jetzt hat Fabiana, die vorne an der Tafel steht,
das Sagen. Die 29-jährige Brasilianerin ist nach Ahrensfelde
gekommen, um den Schülern ihr Heimatland nahe zu bringen.
Nach ein paar Minuten heißer Samba-Rhythmen drückt
Fabiana die Stopp-Taste des Kassettenrekorders und beginnt, von den
verschiedenen Ethnien in Brasilien zu erzählen. "Schaut mich
an", sagt sie fröhlich und mit leichtem portugiesischen
Akzent. "Meine Urgroßmutter mütterlicherseits war
Indianerin. Sie hat einen Portugiesen geheiratet. Und die
Großmutter meines Vaters kam aus Deutschland und war mit einem
Italiener verheiratet." Die Schüler staunen. Ein solch
leibhaftiges Beispiel für Völkergemisch in ihrem
Klassenzimmer ist natürlich viel eindrucksvoller, als es
trockene Schulbuchlektüre über ethnische Vielfalt in
Brasilien je sein könnte.
Den Besuch Fabianas verdanken die Schüler einem Projekt des
World University Service (WUS), das im Juni 2003 startete und vom
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (BMZ) und von der Europäischen Union
gefördert wird. Das Programm "Grenzenlos - Interkulturelles
Lernen im Dialog" schickt junge Menschen aus Südamerika,
Afrika und Asien, die an deutschen Universitäten studieren, in
Schulen in Hessen, Brandenburg und Berlin. Dort erzählen sie
vom Leben und von der Kultur in ihrem Heimatland. Ziel ist es,
durch die Begegnung mit den ausländischen Studenten das
Interesse der deutschen Schüler vor allem an den so genannten
Entwicklungsländern zu wecken und Vorurteile und
Fremdenfeindlichkeit abzubauen.
2003 haben 15 Schulen ab der siebten Klasse an dem Projekt
teilgenommen, im Jahr darauf wurde es auf 31 Schulen und auf die
fünfte und sechste Jahrgangsstufe ausgeweitet. Das BMZ hat
sich im März 2005 für eine Fortführung des Projekts
und gegebenenfalls zu einer Ausweitung auf die übrigen
Bundesländer ausgesprochen. Es erklärte sich
außerdem zu einer Übergangsfinanzierung bereit und
erteilte dem WUS die Aufgabe, bis Ende 2005 eine finanzielle
Beteiligung der Länder zu erreichen.
Rassismus vorbeugen
Dass das Projekt dazu beiträgt, Rassismus vorzubeugen,
davon ist Holger Schaeffer überzeugt. "Natürlich
können auch wir Lehrer Wissen über andere Kulturen
vermitteln", meint der 40-Jährige, der rein zufällig im
Sommer 2003 von der Initiative des WUS erfuhr und sich sofort
anmeldete. "Aber es ist etwas ganz anderes, wenn jemand, der aus
einem fremden Land kommt, von diesem erzählt. Er hat einfach
eine viel überzeugendere Ausstrahlung." Grundsätzlich
seien die Schüler sehr neugierig, wenn ein ausländischer
Student in den Unterricht komme.
Wichtig findet Schaeffer vor allem, dass die Gäste in der
Lage sind, über ihre Kultur und ihr Land interessant zu
berichten. "Und sie müssen in der Lage sein, den Schülern
zuzuhören und auf ihre Fragen zu antworten", fügt der
Lehrer für Geschichte und Musik hinzu. "Der Raum für die
menschliche Begegnung ist das Entscheidende, weil nur über sie
die Begegnung mit der fremden Kultur in Gang kommt."
Insgesamt 74 Studierende aus so unterschiedlichen Ländern
wie Ghana, Georgien, Indien oder China wurden bislang als
Kultur-Mittler in deutsche Schulklassen entsandt. Auf ihre Aufgabe
werden sie vom WUS sorgfältig vorbereitet. In einem ersten
Wochenend-Seminar machen sich die Studenten mit dem deutschen
Bildungssystem vertraut, üben Methoden wie Gruppenarbeit und
Diskussion und setzen sich in Rollenspielen mit möglichen
Unterrichtsszenarien auseinander. In einem zweiten Seminar lernen
sich die Studenten und die an einer Kooperation interessierten
Lehrer kennen und verabreden sich für die gemeinsame
Gestaltung einer Unterrichtsstunde.
Nach mindestens zwei Einsätzen an einer Schule treffen sich
Studierende und Lehrer noch einmal, um ihre Erfahrungen
auszutauschen und zu bewerten. Und schließlich kommen die
Studenten zu einem weiteren Crash-Kurs zusammen, um ihre
didaktischen und methodischen Grundkenntnisse auszubauen. Wer den
Fortbildungs-Marathon durchhält, nimmt an einer
Abschlussprüfung teil und erhält bei Bestehen ein
Zertifikat, das ihn als "facilitator for global and intercultural
education" ausweist.
Auch Fabiana hat so ein Zeugnis in der Tasche. Die Mutter eines
vierjährigen Sohnes studiert Publizistik an der Freien
Universität Berlin und ist eine überzeugte Verfechterin
des Projekts "Grenzenlos". Sie will sogar ihre Magisterarbeit
darüber schreiben. Allerdings hat sie noch keinen Professor
gefunden, der ihre Begeisterung für das Thema teilt.
Dabei hat Fabiana nicht nur angenehme Unterrichtsstunden erlebt.
In einer Klasse einer Realschule in Brandenburg schlugen ihr
Desinteresse und auch Aggressivität entgegen. Als sie den
Schülern das Bild eines brasilianischen Straßenkindes
zeigte, hörte sie spöttische Bemerkungen über sein
Aussehen. Entmutigen lässt sie sich von solchen Erlebnissen
nicht. Dafür ist ihr das Projekt zu wichtig. Denn zum einen
glaubt sie trotz manchem Rückschlag fest daran, dass es hilft,
Vorurteile und Klischees abzubauen. Zum anderen erlebt sie ihre
neue Rolle als begehrte Expertin in Sachen Brasilien auch als ein
Stück Selbstbestätigung. Den Schülern der siebten
Klasse am Barnim-Gymnas hat ihre lockere Art gefallen, und auch,
dass sie alle Fragen beantworten konnte. Vor allem aber fanden sie
es toll, dass ihnen nicht Klassenlehrer Schaeffer, sondern "eine
echte Brasilianerin" von Brasilien erzählt hat.
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