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Geisteswissenschaften im Umbruch
Expertenanhörung
Bildung und Forschung. Die zunehmende Abwanderung
hochqualifizierter Wissenschaftler ins europäische Ausland und
in die USA als Folge von Stellenknappheit und der Abschaffung von
Lehrstühlen haben Sachverständige bei einer Anhörung
am 11. Mai über einen Antrag der Fraktionen von SPD und
Grünen zur Situation der Geistes-, Sozial- und
Kulturwissenschaften in Deutschland (15/4539) kritisiert. Die
Experten warnten zudem vor den negativen Folgen, die der Streit
zwischen Bund und Ländern über die Hochschul- und
Forschungspolitik für Universitäten und Wissenschaftler
habe. Werde die bewährte Bund-Länder-Kooperation
gefährdet, drohe ein "Rückfall in den Provinzialismus",
betonte im Namen der Deutschen Forschungsgemeinschaft der
Freiburger Geschichtsprofessor Hans-Joachim Gehrke.
Übereinstimmend erklärten die Sachverständigen,
dass sich die Geisteswissenschaften inhaltlich keineswegs in einer
Krise befinden. International habe die hiesige Forschung einen
hohen Standard, so Professorin Ulrike Freitag, Direktorin des
Zentrums Moderner Orient in Berlin. Horst Bredekamp, Professor
für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin:
"Die Geisteswissenschaftler waren selten so produktiv wie
momentan." Zudem befinde man sich in einer positiven Umbruchphase,
erläuterte der Jenaer Romanistik-Professor Reinhold Grimm: Die
Forscher vernetzten sich zusehends, auch greife Teamarbeit immer
mehr um sich. Grimm beklagte, dass die Geisteswissenschaften wegen
ihres fehlenden kurzfristigen ökonomischen Nutzens unter Druck
gesetzt werden. Professor Wolfgang Frühwald, Präsident
der Alexander-von-Humboldt-Stiftung: "Wir stehen in der
Öffentlichkeit unter Legitimationsdruck, damit müssen wir
offensiver umgehen."
Bredekamp hob die Rolle der Geisteswissenschaften als
Seismographen hervor: "An den Universitäten werden kulturelle
Bewegungen viel früher wahrgenommen als anderswo." Als
Beispiel erwähnte Gehrke französische Studien, nach denen
die vertiefte Kenntnis anderer Kulturen und Traditionen gegen
Vorurteile immunisiere. Bredekamp kritisierte, die
Geisteswissenschaften würden trotz ihrer gesellschaftlichen
Bedeutung "niedergeredet", es werde auf sie "eingedroschen". Er
wies darauf hin, dass zehn Mal mehr Menschen Museen und
Ausstellungen besuchen als Fußballstadien.
Als ein Kernproblem bezeichneten die Sachverständigen die
Abschaffung von geisteswissenschaftlichen Lehrstühlen. Um die
zunehmende Abwanderung jüngerer Forscher ins Ausland zu
verhindern, "brauchen wir Stellen", forderte Gehrke. Mit besonderen
Schwierigkeiten hätten kleinere Fächer wie etwa
Sinologie, Orientalistik oder Slawistik zu kämpfen, obwohl
deren Themengebiete angesichts der fortschreitenden
Internationalisierung immer wichtiger würden. Der frühere
Staatsminister Julian Nida-Rümelin, Politik-Professor in
München, beklagte in seiner schriftlichen Stellungnahme, dass
"in ganz Deutschland kleine geistes- und kulturwissenschaftliche
Fächer geschlossen werden". Bei diesem Vorgehen würden
sich die einzelnen Bundesländer nicht untereinander abstimmen,
kritisierten mehrere Experten. Grimm berichtete, dass
beispielsweise in Berlin und Brandenburg aufgrund rein lokaler
Entscheidungen Slawistik-Lehrstühle reihenweise dichtgemacht
würden. Frühwald sagte, mit der Aufgabe der
Koreanistik-Professur in Tübingen werde "dieses Fach in
Baden-Württemberg ausradiert". In Nordrhein-Westfalen, so
Gehrke, gebe es nur noch einen Lehrstuhl für Sinologie. Ulrike
Freitag wandte sich dagegen, kleinere Fächer an einigen
wenigen Universitäten zu konzentrieren.
Aus Sicht Nida-Rümelins wird die verstärkte
Berufsfeld- und Anwendungsorientierung von vielen
Geisteswissenschaftlern und Studenten "als eine Existenzbedrohung
ihres Fachs empfunden". Die Verschulung der universitären
Lehre bedrohe die Geisteswissenschaften in besonderer Weise, weil
hier die Verbindung von Lehre und Forschung besonders eng sei. Sie
zwinge die Geisteswissenschaften in ein "Korsett", das etwa
für die Physik oder die Jurisprudenz angemessen sei, "aber in
der Philosophie oder in der PolitischenTheorie eine
gefährliche Erstarrung des Lehrbetriebs nach sich zieht".
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