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"Symbolisierung für die Unfasslichkeit"
Rede von Bundestagspräsident Wolfgang
Thierse zur Eröffnung des "Denkmals für die ermordeten
Juden Europas"
Im Beisein von rund 1500 Gästen aus
dem In- und Ausland wurde das Denkmal für die ermordeten Juden
Europas am 10. Mai in Berlin eröffnet. Neben
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sprachen der
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul
Spiegel, der Architekt Peter Eisenman, Frau Sabina van der Linden,
eine heute in Sydney wohnende Überlebende des Holocaust und
Frau Lea Rosh, Vorsitzende des Förderkreises für das
Denkmal.
Vor zwei Tagen, am 8. Mai, hat die
Bundesrepublik Deutschland, haben wir des Kriegsendes und der
Befreiung unseres Landes und unseres Kontinents von der
Hitlerbarbarei gedacht. Heute eröffnen wir ein Denkmal, das an
das schlimmste, das entsetzlichste der Verbrechen Nazideutschlands
erinnert, an den Versuch, ein ganzes Volk zu vernichten. Dieses
Denkmal ist den ermordeten Juden Europas gewidmet.
Dies ist ein Denkmal an der Grenze, ein
Denkmal im Übergang - und zwar in mehrfacher
Hinsicht.
Es gab über dieses Denkmal die
höchstmögliche Entscheidung, die in dieser Republik
möglich ist: eine Entscheidung des Deutschen Bundestages. Als
die Entscheidung des Parlaments mit parteiübergreifender
großer Mehrheit am 25. Juni 1999 fiel, war dem eine
zehnjährige intensive Debatte vorausgegangen - angestoßen
von einer Initiative von Bürgern aus der Mitte der
Gesellschaft und getragen von deren unbeirrbarem Engagement bis
heute.
Die Entscheidung für das Denkmal in
Berlin war eine der letzten, die der Bundestag in Bonn vor seinem
Umzug fasste. Es war die Entscheidung für ein erstes
gemeinsames Erinnerungsprojekt des wiedervereinten Deutschland und
das Bekenntnis, dass sich dieses geeinte Deutschland zu seiner
Geschichte bekennt und zwar indem es in seiner Hauptstadt, in ihrem
Zentrum, an das größte Verbrechen seiner Geschichte
erinnert. Im Zentrum jener Stadt, die zwar nicht der Ort des
Massenmordes war, von der aus aber die systematische millionenfache
Tötung von Menschen erdacht, geplant, organisiert, verwaltet
wurde.
Keine andere Nation habe je den Versuch
unternommen, so schrieb der amerikanische Judaist James E. Young,
"sich auf dem steinigen Untergrund der Erinnerung an ihre
Verbrechen wiederzuvereinigen oder das Erinnern an diese Verbrechen
in den geographischen Mittelpunkt ihrer Hauptstadt zu rücken".
- Eine Aufgabe also an der Grenze dessen, was einer sozialen
Gemeinschaft möglich ist. Das mag die Heftigkeit der Debatte
um das Denkmal, auch manchen Widerstand erklären und
rechtfertigen. Widerspruch und Debatte werden das Denkmal wohl auch
weiter begleiten, was gewiss nicht das Schlechteste sein
muss.
Der Holocaust berührt die "Grenze
unseres Verstehens", so ist zutreffend gesagt worden. Dieses
Denkmal agiert an dieser Grenze. Es ist der Ausdruck für die
Schwierigkeit, eine künstlerische Form zu finden, die dem
Unfassbaren, der Monstrosität der nationalsozialistischen
Verbrechen, dem Genozid an den europäischen Juden
überhaupt irgend angemessen sein könnte. Es verwischt die
Grenze nicht zwischen einer Erinnerung, die auf keinerlei Weise
"bewältigt" werden kann, und jener Erinnerung, die für
Gegenwart und Zukunft Bedeutung haben muss.
Dies soll ein Ort des Gedenkens sein, soll
also die Grenze überschreiten, die zwischen kognitiver
Information, historischem Wissen einerseits und Empathie mit den
Opfern, Trauer um die Toten anderseits liegt - so sehr beides
gewiss zusammengehört. Dieses Denkmal - mit dem Ort der
Information - kann uns Heutigen und den nachfolgenden Generationen
ermöglichen, mit dem Kopf und mit dem Herzen sich dem
unbegreiflich Geschehenen zu stellen.
Was heute noch in großer
Eindringlichkeit Zeitzeugen erzählen können, müssen
in Zukunft Museen, muss die Kunst vermitteln. Wir sind
gegenwärtig in einem Generationenwechsel, einem
Gezeitenwechsel, wie manche sagen: Nationalsozialismus, Krieg und
organisierter Völkermord werden immer weniger lebendige
Erfahrung von Zeitzeugen bleiben, sondern immer mehr zu Ereignissen
der Geschichte; sie wechseln von persönlicher, individuell
beglaubigter Erinnerung in das durch Wissen vermittelte kollektive
Gedächtnis. Das Denkmal ist Ausdruck dieses
Übergangs.
Es ist damit nicht, wie manche
befürchten, das Ende, der steinerne Schlusspunkt unseres
öffentlichen Umgangs mit unserer Nazi-Geschichte. Es
überträgt vielmehr diese beunruhigende Erinnerung in das
kulturelle Gedächtnis der Deutschen, ohne deren
Beunruhigungskraft zu vermindern. Das Denkmal wird Anstoß
bleiben, der Streit darum wird weitergehen, dessen bin ich sicher.
Es widerlegt ja nicht alle Argumente, die gegen es vorgebracht
wurden. Es erhebt keinen Monopolanspruch aufs Gedenken, im Ort der
Information wird auf die authentischen Orte des mörderischen
Geschehens und auf andere Gedenkstätten hingewiesen. Seine
Widmung bleibt umstritten.
Die Eröffnung eines solchen Denkmals ist
kein Anlass zu fröhlichem Feiern, gewiss. Aber sie ist
für mich als Bauherrn doch Anlass zum Dank an alle Beteiligten
- dafür, dass der Beschluss des Bundestages nunmehr umgesetzt
ist.
Der Anstoß zu diesem Denkmal ist aus
einer bürgergesellschaftlichen Initiative entstanden. Ich
möchte dafür dem Förderkreis und stellvertretend
für ihn Lea Rosh und Eberhard Jäckel herzlich danken -
für ihre geduldige Ungeduld, ihr unbeirrbares,
störrisches Engagement, mit dem sie das Projekt bis heute
getragen haben.
- Mein Dank gilt dem Architekten Peter
Eisenman für seinen ingeniösen Entwurf und, ja, - auch
für seine Geduld.
- Mein Dank gilt Dagmar von Wilcken, der
leisen, der sensiblen, der präzisen Gestalterin des Ortes der
Information.
- Mein Dank gilt der Gedenkstätte Yad
Vashem und allen anderen befreundeten Gedenkstätten, die uns
auf vielfältige Weise unterstützt haben. Dass Yad Vashem
mit uns zusammenarbeitet, ist wahrlich nicht
selbstverständlich, es beschämt uns, es ehrt uns, es
fordert uns für die Zukunft heraus.
- Mein Dank gilt den jüdischen Familien,
den Überlebenden des Holocaust, die für uns ihre
persönlichen Archive geöffnet und uns die Zeugnisse ihres
Lebens und Leidens zur Verfügung gestellt haben.
- Mein Dank gilt dem Kuratorium, dem Beirat,
der Geschäftsstelle der Stiftung.
- Und - nicht zuletzt - gilt mein Dank allen,
die an der ganz praktischen Realisierung des Baus beteiligt waren:
den bauausführenden Büros und Firmen, den Handwerkern,
den Bauarbeitern.
Das Denkmal für die ermordeten Juden
Europas ist eine begehbare Skulptur, die - so mein Empfinden - eine
große emotionale Kraft entfaltet, es ist eine bauliche
Symbolisierung für die Unfasslichkeit des
Verbrechens.
Es ist - im wirklichen Sinne des Wortes - ein
offenes Kunstwerk. Offen gegenüber der Stadt, dem
räumlichen Umfeld, in das es übergeht. Offen für
seinen vielfältigen individuellen Gebrauch: Dieses Denkmal
kann man nicht "kollektiv" begehen, es vereinzelt. Es
ermöglicht eine sinnlich-emotionale Vorstellung von
Vereinsamung, Bedrängnis, Bedrohung. Es erzwingt
nichts.
Ich habe die Hoffnung, dass Menschen, auch
und gerade junge Menschen normaler Empfindsamkeit, das empfinden
werden, die begrifflose Ausdruckskraft dieses Denkmals spüren,
von ihm berührt sein werden und betroffen und fragend den Ort
der Information aufsuchen. Hier bekommen die Opfer Namen und
Gesichter und Schicksale - wer wird sich dem entziehen können!
Und dann wieder durch das Stelenfeld gehen und der Opfer
gedenken.
So kann es sein, so ist es gemeint: Nicht
eine Art negativer Nostalgie, sondern ein Gedenken der Opfer, das
uns in der Gegenwart und Zukunft verpflichtet: zu einer Kultur der
Humanität, der Anerkennung, der Toleranz in einer
Gesellschaft, in einem Land, in dem wir ohne Angst als Menschen
verschiedene sein können.
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