|
![](../../../layout_images/leer.gif) |
Udo Scheer
Unterordnung oder Ausgrenzung
Zur psychischen Erblast der DDR
Die psychische Erblast der DDR-Diktatur wurde
bislang kaum wahrgenommen. Dabei haben Nachwirkungen des
frühen Entzugs der Mutterbindung durch sozialistische
Kinderkrippen, der menschenverachtenden Drill in der Nationalen
Volksarmee oder willkürlich verhängte politische
Zuchthausstrafen zum Teil tiefsitzende seelische Deformationen
hinterlassen. Auf der anderen Seite konnten Systemträger nach
dem Zusammenbruch der sozialistischen Ordnung - und damit ihrer
Karrieren - in akute Angststörungen verfallen. Zum Ausbruch
kamen und kommen diese Schädigungen mitunter erst Jahre bis
Jahrzehnte später durch familiäre Zerwürfnisse,
Verlust des Arbeitsplatzes, durch Entwurzelungs- oder
Versagensängste.
Sieben Autoren und praktizierende Psychologen
haben aus ihren Therapieerfahrungen heraus seelische Schäden
als Folge gesellschaftlicher Deformationen bewusst gemacht. Ihr
Credo: "Die anhaltende Diskussion über die... Probleme der
Wiedervereinigung ist heute primär eine ökonomische.
Über Investitionsvolumen, Arbeitslosenzahlen und
Bruttosozialprodukte lässt sich leichter sprechen als
über psychische Fixierungen, Ängste, Wünsche und
innere Konflikte. Und doch ist dies der entscheidende Bereich, von
dem aus alle wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen
getroffen werden."
An sieben Fallbeispielen - drei ehemalige
SED-Genossen, ein IM der Staatssicherheit, ein Krippenkind und zwei
sich dem System Widersetzende - gehen die Autoren Folgewirkungen
diktatorischer Macht auf die Psyche Einzelner nach. Auffällig
ist: In allen Fällen sind fehlende oder verhinderte
Mutterliebe und mehrfach die ersatzweise Fixierung auf
autoritäre Vaterfiguren wesentliche Ursachen der
Psychosyndrome.
Unbewältigte Konflikte
Wenn die Autoren die Schädigungen
dennoch primär auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in
der DDR zurückführen, hat das durchaus seine
Berechtigung. Die familiären Situationen waren in allen
Fällen entscheidend geprägt vom Absolutheitsanspruch des
Regimes: Integration durch Unterordnung oder
Ausgrenzung.
Exemplarisch und drastisch steht hier die
Geschichte jener schwangeren Frau, die Republikflucht begehen
wollte, um ihr Kind nicht der sozialistischen Erziehung
auszusetzen. Sie wurde gefasst und nach ihrer Weigerung, mit der
Staatssicherheit zu kollaborieren, zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus
verurteilt. Das Neugeborene musste sie in ein Heim geben.
Psychische Folgen bei der Tochter, dauerhafte Entfremdung und
eigene Schuldkomplexe kompensierte diese Frau durch
uneigennützige Hilfe für andere. Als sie ihren
Sozialberuf gesundheitsbedingt aufgeben musste, brach 30 Jahre nach
der Flucht ihr unbewältigter Konflikt auf; sie sah sich
zunehmend Konzentrations- und Schlafstörungen ausgesetzt. Wie
in mehreren anderen Fällen auch blieb der Versuch einer
Therapie ohne Erfolg.
Welche Nachwirkung die als fortschrittlich
propagierte sozialistische Kinderverwahrung haben konnte, zeigt
eindringlich der Fall einer Frau, deren Mutter sie bereits im Alter
von sechs Wochen in die Kinderkrippe gab, um wieder als
Verkäuferin zu arbeiten. Das System bot die Rahmenbedingungen.
Die gesellschaftliche Anerkennung der Frauen war eng verbunden mit
Ganztags- oder Schichtarbeit. Erwünschter Zusatzeffekt waren
die staatliche Kindeserziehung und die kollektive Einordnung vom
Kleinstkindalter an. Die anerzogene strenge Ordnung und ein auf
Funktionieren getrimmtes Leben mit fremdbestimmtem Tagesrhythmus
führte nach dem Umbruch 1989 dazu, dass diese Frau sich nicht
in der Lage sah, flexibel und in wechselnden Umfeldern zu agieren.
Die Folgen waren Essstörungen und depressive
Reaktionen.
Der Wunsch nach kollektiver Geborgenheit,
nach Angenommen-Werden, aber auch kalkuliertes Karrierestreben
erklärten drei der Patienten als Motive ihrer Mitgliedschaft
in der SED. Dabei waren die individuellen Beweggründe
außerordentlich verschieden. Eine Patientin, die sich als
Vierjährige die Schuld an der langwierigen TBC-Erkrankung
ihrer Mutter gab, suchte in der SED den Mythos der idealen
Gemeinschaft. Selbst als ihr erster Mann, ein Bulgare, aus
politischen Gründen verhaftet wurde und verschwand, war sie
unfähig, Nachforschungen anzustellen.
IM als Vaterersatz
Einer der Patienten, der offenbar durch
frühkindliche Trennung von seiner Mutter ein hohes
Identifikations- und Anpassungsverlangen entwickelt hatte, fand in
der Staatssicherheit einen väterlichen Freund. Während
des Studiums ließ er sich als IM anwerben, glaubte, den Aufbau
des Sozialismus so noch besser unterstützen zu können.
Als er sich 1991 durch Selbstanzeige, so sein Bericht, geoutet habe
und statt der erhofften Anerkennung aus dem öffentlichen
Dienst entlassen wurde, kam seine depressive Veranlagung zum
Durchbruch.
Ein anderer, dessen Familie in drei
Generationen aktiv den Nationalsozialismus und die SED-Diktatur mit
getragen hatte, suchte nach dem Zusammenbruch erfolglos ein neues
Schutz- und Versorgungssystem. Nach dem Verlust seiner Karriere und
Macht über andere floh er in Krankheit.
Dieser Querschnitt von Fällen
berührt einen Wesenskern quasitotalitärer Strukturen. Und
doch bleiben sie zufällige Einzelfälle. Das "Leichengift
der DDR", das ganze Ausmaß der chronischen, auf der Couch oft
nicht heilbaren Erkrankungen, auf die Günter Kunert in seinem
Vorwort verweist, ist so kaum zu erahnen. Um die Dimension
systembedingter psychischer Erkrankungen ermessen zu können,
wäre eine statistische Übersicht und summierende
Ursachenanalyse eine so wünschenswerte wie lohnende
Ergänzung für diese Studie.
Tomas Plänkers, Ulrich Bahrke, Monika Baltzer, Ludwig
Drees, Gerold Hiebsch, Marion Schmidt, Dagmar Tautz
Seele und totalitärer
Staat.
Zur psychischen Erbschaft der
DDR.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2005; 178
S., 19,90 Euro
Zurück zur Übersicht
|