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Alexander Kluy
Beklemmende deutsche Geschichte
Roman Graefes Buch über Prozesse gegen
DDR-Grenzschützen
Ich war sprachlos, ich sagte wirklich nichts, schüttelte
nur immer den Kopf, dachte, das ist doch unmöglich. Man kann
doch einen solchen Konflikt nicht mit Steinen und Stacheldraht
lösen. Es ist unfassbar, die Primitivität dieses
Einfalls. Einfach eine Grenze ausheben, zumachen, dichtmachen und
dann schießen auf das, was läuft." Noch 20 Jahre nach dem
Bau der Berliner Mauer rang der Publizist Horst Krüger mit
Worten, um seine ersten Eindrücke an der steinernen Grenze in
Berlin adäquat wiederzugeben.
Der 1968 geborene Journalist Roman Graefe, der im Januar 1989
nach mehreren Versuchen aus der DDR ausreisen durfte, stellt dieses
Zitat seinem Buch als Motto voran. Leitmotivisch durchzieht darin
Krügers Entsetzen und Erschrecken auch diese Publikation.
Graefe erzählt das Schicksal von erschossenen
Mauerflüchtlingen, von Peter Fechter 1962 bis zu Chris
Gueffroy, der dem Schießbefehl der DDR-Grenztruppen im Januar
1989 als letzter zum Opfer fiel, und von den Gerichtsverhandlungen
gegen die Verantwortlichen in den 90er-Jahren.
Graefe legt ein Buch vor, das nichts weniger als Gerechtigkeit
will. Er fordert diese mal vehement, mal grimmig von der Justiz ein
und muss zur Kenntnis nehmen, wie eine angemessene Sühne - und
das soll ja eine Verurteilung zu einer Haftstrafe sein - an den
Realitäten der Rechtsprechung zu zerschellen droht.
Als ausdauernder Berichterstatter nahm Graefe an zahlreichen
Gerichtsverhandlungen gegen hochrangige DDR-Funktionäre,
frühere Minister und Grenzschützen teil; diese Prozesse
dauerten teilweise mehrere Jahre. Er rapportiert ausführlich
eine erschreckende ideologische Hartnäckigkeit und Blindheit
der Beteiligten. Kaum einer der angeklagten früheren Soldaten,
Offiziere oder Politiker zeigte Einsicht. Fast alle beriefen sich
auf Pflichterfüllung und Dienstvorschriften oder schlicht auf
Unkenntnis, je nach Gemengelage oder Stellung innerhalb der
bürokratisch-sozialistischen Hierarchie.
Als säße man im Gerichtssaal, so lebendig werden bei
Graefe die auftretenden Zeugen, Staatsanwälte, Verteidiger und
Richter. Geradezu abschreckend geraten ihm die Porträts
unbeirrter alter Kämpfer und vormals führender
Funktionäre der SED. Mitfühlend und präzise
schildert er die Emotionen von Eltern und Verwandten, die noch
Jahrzehnte später den Tod ihrer Angehörigen oder Freunde
an der Grenze nicht verwunden haben und nun erleben, wie die
Täter von einst meist zu geringen Strafen auf Bewährung
verurteilt werden.
Dieses Buch ist anstrengend, ernüchternd, frustrierend und
aufwühlend. Es ist ein beklemmendes Stück deutscher
Geschichte. Einem Kapitel stellt Grafe eine Bemerkung Wolf
Biermanns voran: "Die Täter, egal, ob sie Leichenberge
hinterließen oder nur zerstörte Leben, verteidigen sich
kalt und hart. Keiner schämt, keiner beknirscht sich. Keiner
will irgend etwas an irgendwem wiedergutmachen."
Aus der Geschichte tatsächlich lernen - mit diesem
wichtigen, notwendigen Werk kann der oft angemahnte Anspruch
erfüllt werden.
Roman Graefe
Deutsche Gerechtigkeit.
Prozesse gegen DDR-Grenzschützen und ihre
Befehlsgeber.
Siedler Verlag, München 2004; 352 S., 24,90 Euro
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