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Richard Szklorz
Auf der Suche nach den verborgenen Wurzeln
Die zweite Generation der Sudetendeutschen
pflegt die Traditionen und droht sie gleichzeitig zu
verlieren
Ihr Büro ist vollgestopft mit Ordnern,
Ausstellungskatalogen und Faltblättern, die von zahlreichen
Projekten zeugen, die sie in den letzten Jahren als Heimatpflegerin
der Sudetendeutschen realisierte. Eva Habel gibt schmunzelnd zu,
dass sie sich in ihrem Souterrainbüro, gewissermaßen als
Nebenprodukt ihrer Arbeit, einen Bereich geschaffen hat, in dem sie
sich vor dem Gefühl der Heimatlosigkeit und des Fremdseins
schützen kann.
Heimatlosigkeit? Eva Habel wurde in Bayern
geboren, Jahre nach den dramatischen Ereignissen der
Nachkriegszeit. Sie wuchs in Waldkraiburg auf, einer Stadt, die von
Vertriebenen, hauptsächlich solchen aus der Tschechoslowakei,
aus dem Boden gestampft worden war. In Waldkraiburg zu leben
hieß zwangsläufig, unter Menschen groß zu werden,
denen in ihrer ehemaligen Heimat tiefe, lebenslang spürbare
Verletzungen zugefügt wurden. Bisweilen hat sie auch
Geschichten von "guten" Tschechen gehört, die 1945 ihren
gedemütigten deutschen Landsleuten halfen, doch meist waren es
Erzählungen von der Vertreibung; Geschichten, die nur hinter
vorgehaltener Hand berichtet oder aus Rücksicht auf die Kinder
oder die eigenen Wunden sogar ganz verschwiegen wurden. Auch Eva
Habel fand zu ihrer eigenen Geschichte erst nach einem
längeren Umweg. Sie studierte vergleichende Volkskunde,
promovierte, und beschäftigte sich erst einmal mit
wissenschaftlichen Fragen bayerischer kultureller
Überlieferungen. Das Nachdenken über die eigene Herkunft
begann erst später, als ihr immer klarer wurde, wie sehr ihre
Fremdheitsgefühle, die sie seit der Kindheit spürte,
Folge der unfreiwilligen Verpflanzung ihrer Familie waren. Um mehr
zu verstehen, begann sie, sich die Erinnerungskultur der
Vertriebenen zu erschließen.
Aber es gab auch die Erzählungen aus der
neuen Heimat. Geschichten von schwierigen Anfängen in
Deutschland, von dem Gefühl der Fremdheit. Auch wenn die
Familien noch so anpassungswillig waren, blieben sie lange Zeit
kleine Enklaven der verlorenen und doch mitgeschleppten Heimat. Sie
waren anders als die Einheimischen. Den Kaffee haben ihre Eltern
nicht aus Tassen, sondern aus Tipfln getrunken, sie aßen
Ribisel, Buchteln, Kollatschen und Paradeiser.
Als es der Großmutter von Eva Habel
gelang, in der neuen Zwangsheimat im bayerischen Schwaben eine
kleine Parzelle zu ergattern, legte sie ein Extrabeet für
Knoblauch an. Der war nicht nur für den Eigenbedarf bestimmt,
sondern wurde postalisch an die verstreut lebende Verwandtschaft
verschickt, da das Fehlen dieses Gewächses in deutschen
Gemüsegeschäften als Einschränkung mitgebrachter
Kochkünste beklagt wurde. Gerne zitiert Habel aus dem Brief
eines Onkels, der nach seiner Vertreibung aus der barocken
Geborgenheit seiner böhmischen Heimat aus dem flachen
Norddeutschland überschwänglich schrieb, wie sehr er den
ihm zugesandten Knoblauch der Großmutter genossen habe. Der
Konsum dieser Pflanze habe ihm in der Straßenbahn jedoch
böse Blicke und die Beschimpfung "Balkanese!"
eingebracht.
Und auch Bernd Posselt, Vorsitzender der
Sudetendeutschen Landsmannschaft, erzählt: "Heute ist es
anders als früher. Man geht zum Griechen und isst etwas mit
Knoblauch. Das hat man uns damals aber vorgeworfen. Ein so
genannter anständiger Deutscher, hat so etwas nicht in den
Mund genommen, bei uns aber wurde fast alles mit Knoblauch
gegessen. Mit Begeisterung! Auch unsere Würste waren
würziger. Die Würste, die die Badener uns aufhalsen
wollten, waren langweilig. Wir hatten andere Klänge,
Gerüche, Bilder, einen anderen Humor und Musikalität",
erinnert er sich. Posselt kann nur lachen, wenn er hört, dass
ein Kind türkischer Eltern, das in Deutschland geboren und
aufgewachsen ist, kein Türke mehr sein soll. "Wir leben als
Deutsche in Deutschland und trotzdem sind wir anders. So etwas
dauert zwei, drei Generationen." Das findet er in Ordnung, auch
für die Türken.
Dass ihm gutes Essen schmeckt, das
verrät seine barocke Figur, dass er aber seine Herkunft nicht
allein auf die Besonderheiten der Speisen oder der Sprache
beschränkt wissen möchte, macht Posselt - ganz der Homo
Politikus - sogleich klar. Als Abgeordneter des Europaparlaments
arbeitet er seit elf Jahren in Ausschüssen für
Menschenrechte und Minderheitenfragen mit. Das habe viel mit seiner
Herkunft zu tun, sagt er. "Manchmal werde ich gefragt, warum ich
mich nicht lieber um Wirtschaftsfragen kümmere, das würde
doch mehr einbringen. Nein, wenn mir das Thema der Ausrottung der
Karen in Burma am Herzen liegt, hat es damit zu tun, dass meine
Familie vertrieben wurde."
Nach unterschiedlichen Schätzungen leben
in Deutschland heute mindestens fünf Millionen Nachkommen der
aus der Nachkriegstschechoslowakei vertriebenen Deutschen. Wie
viele von ihnen sich auf diese Herkunft wirklich beziehen, ist kaum
zu ermitteln. So stellt sich die Frage, ob sich unter den fünf
Millionen genügend Menschen finden werden, die die
jahrhundertealte Kultur der einst zweisprachigen böhmischen
Länder weiter pflegen werden, oder ob sie dem Untergang,
bestenfalls der Musealisierung anheimfallen wird?
Wer sich auf dem Sudetendeutschen Tag
umschaut, der jedes Jahr zu Pfingsten stattfindet, dem fällt
sofort das Übergewicht der älteren oder ganz alten
Menschen auf, die von Insidern manchmal als "Erlebnisgeneration"
bezeichnet werden, da sie noch selbst die Vertreibung durchgemacht
haben und über die Heimat zu berichten wissen.
Als das "Bärner Ländchen", das
Heimatblatt der aus einer Region in Böhmisch-Schlesien
vertriebenen Deutschen, einen neuen "Ortsbetreuer" suchte, da der
bisherige altersbedingt seine Arbeit nicht mehr bewältigen
konnte, war Thomas Köpnick, 28 Jahre alt, Angestellter aus
Berlin, zur Stelle. Seine Aufgabe ist es, die Seelenliste der
ehemaligen Bewohner von Bärn zu führen. "Es ist doch
berichtenswert, dass jemand 90 Jahre alt geworden ist." Und die
Todesdaten? Er ist sich sicher, dass er der letzte "Ortsbetreuer"
sein wird. "Nach mir wird es keinen mehr geben."
So düster sieht Bernd Posselt die Lage
keineswegs: "Was glauben Sie, wie viele Leute aus meiner Generation
sich jetzt bei uns melden und sagen, dass sie zwar früher von
der "Sache" nichts wissen wollten, damals ,als noch ihre Eltern und
Großeltern lebten. Jetzt kommen sie zu uns, weil sie etwas
über ihre Wurzeln erfahren wollen." Er weist auch auf Harald
Schmidt hin, der ein Kind deutsch-böhmischer Eltern ist. In
einer seiner Shows soll sich der Star dagegen verwahrt haben, dass
sein Humor schwäbisch sei. "Das hat er schnell richtig
gestellt", sagt Posselt nicht ganz ohne Stolz, "und darauf
hingewiesen, dass sein Humor böhmisch ist."
Bernd Posselt ist 49 Jahre alt. Das Wort
Erlebnisgeneration mag er nicht, es schaffe eine unnötige
Ausgrenzung. Er habe Dinge erlebt, die ihn auf eine besondere Art
mit seiner Herkunft verbinden. "Als Kind habe ich erfahren, was es
heißt, nicht dazuzugehören." In Karlsruhe war er ein
Fremder, obwohl er dort aufgewachsen ist. Die Alt-Badener seien
eine Gesellschaft für sich gewesen. Sie hätten sich
gegenseitig geholfen, er dagegen musste sich selber
helfen.
Kein Gedenken fürs Museum
Auch Eva Habel sieht ihre Arbeit nicht als
Beitrag zur Musealisierung, auch wenn zu ihrem Repertoire
Ausstellungen wie "Kulinarische Erinnerungen an Böhmen,
Mähren und Böhmisch - Schlesien" gehören, in denen
als Erinnerung für die Kinder von den Eltern handgeschriebene
Kochbücher gezeigt werden. Sie gerät ins Schwärmen,
wenn sie von den unzähligen Dorf- und Stadtchroniken der
zurückgelassenen Orte und über andere schriftliche,
biografische und familienbezogene Aufzeichnungen "für wen auch
immer" spricht, die erst nach der Vertreibung entstanden. So, als
wollten sie das Verlorene noch einmal festhalten, es sogar
verewigen, richteten die Vertriebenen in den Nachkriegsjahrzehnten
viele kleine Heimatmuseen und Archive ein, in denen die
schriftlichen, künstlerischen und volkskundlichen Zeugnisse
aus der alten Heimat zusammengetragen wurden. Oft sind die
Bestände immer noch nicht gesichtet oder bearbeitet, da es an
Geld und oft auch an Fachkräften fehlt.
Als Heimatpflegerin begibt sich Eva Habel
häufig auf Spurensuche in das Land ihrer Eltern. Wenn sie nach
Tschechien fährt, sucht sie dort auch das, was durch die
gewaltsame Trennung beider Völker verloren ging, ihren Eltern
und damit auch ihr. Sie lernt tschechisch, so wie manche andere
böhmisch. Diese Anziehungskraft, die beide Gruppen auch
früher füreinander spürten, als sie noch unter einem
Dach lebten, ist eine Fährte, der Eva Habel nachgeht. Und auch
der Frage, wieso diese Nähe in einem alles entscheidenden
Moment genau in das Gegenteil umschlug, obwohl "es doch auch ganz
anders hätte kommen können".
Diese Faszination scheint fortzudauern, auch
bei den ganz Jungen auf beiden Seiten. Lenka Brázdilová,
eine 20 Jahre junge Tschechin, die eine beachtete Arbeit über
die Wischauer deutsche Sprachinsel in Südmähren schrieb,
formulierte ihr Bild von "unseren Deutschen" so: "Es steckt auch
etwas Tschechisches in ihnen. Indem sie in Deutschland Traditionen
bewahren, die sie von zu Hause mitgebracht hatten, zeigen sie, dass
sie in ihrem Herzen ein Plätzchen für ihre Heimat haben,
die jetzt unsere Heimat ist. Sie pflegen sie weiterhin als ihre
Heimat, obwohl wir ihnen nicht erlaubt haben, in ihr zu bleiben.
Sie werden für mich niemals `reine? Deutsche sein, sondern
immer etwas von ihren tschechischen Nachbarn in sich
tragen."
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