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Karl-Otto Sattler
Die Schule der Demokraten
Der Europarat sucht seinen Standort zwischen EU
und OSZE
Nach seiner Blütezeit in den 90er-Jahren
mit der Integration Mittel- und Osteuropas in die internationale
Architektur nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sieht sich der
Europarat mittlerweile zwischen Euro-päischer Union und OSZE
politisch zusehends in den Hintergrund gedrängt. Vor allem
gegenüber Brüssel will sich der Staatenbund jetzt
stärker behaupten und auf seinen Auftrag als Sachwalter von
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit pochen. Jean-Claude Juncker soll
nun die Politik von EU und Europarat neu justieren. Eine zentrale
Rolle dürfte Straßburg künftig vor allem im Osten
des Kontinents spielen.
Mit eindringlicher Stimme appelliert im
weiten Halbrund des Plenarsaals im Palais d'Europe Carina Ohlsson
an ihre Kollegen aus 46 Staaten zwischen Atlantik und Kaukasus:
"Wir als Abgeordnete müssen uns zu Hause in den nationalen
Volksvertretungen stärker für den Europarat einsetzen!"
Die schwedische Politikerin: "Es liegt viel Arbeit vor uns." Der
Holländer Tiny Kox assistiert: "Im niederländischen
Parlament wollen wir künftig wenigstens ein Mal jährlich
über den Staatenbund diskutieren." Viele Regierungen, klagt
der Deputierte aus Den Haag, seien "nicht wirklich von der
Bedeutung des Europarats überzeugt". Als "unverzichtbar"
bezeichnet Andrzej Wielowieyski die internationale Organisation in
Straßburg. Dass jedoch jüngst zum Europarats-Gipfel in
Warschau die meisten Regenten des Kontinents gar nicht erst
anreisten, sei schon ein Zeichen für "Schwäche", bedauert
der Abgesandte aus Polen. Der Belgier Luc van den Brande
bemängelt ebenfalls das Fehlen "wichtiger Staatschefs" in der
polnischen Hauptstadt. Die Medienresonanz auf dieses aufwändig
vorbereitete Meeting war im Übrigen in vielen Ländern
nicht gerade überwältigend. Immerhin sorgte die
Stippvisite von Kanzler Gerhard Schröder in Warschau
hierzulande für Berichte in den Medien.
Als jetzt die Parlamentarische Versammlung
des Staatenbunds bei ihrer Sommersession die Konsequenzen des
Gipfels erörtert, wird das Spitzentreffen in Polen
natürlich als Erfolg, als Aufbruch zu neuen Ufern beschworen.
Aber diese Debatte offenbart auch die Sorge über die Zukunft
des der Durchsetzung von Menschenrechten und demokratischer
Rechtsstaatlichkeit verpflichteten Europarats. Es ist unverkennbar:
Die 1949 gegründete und damit älteste europäische
Institution sucht im Geflecht der gewandelten internationalen
Architektur zwischen EU, OSZE, Westeuropäischer Union und auch
NATO nach einer neuen Rolle. Man könnte es auch so
formulieren: Im Palais d'Europe kämpft man gegen die Gefahr
eines Bedeutungsverlusts. Vor allem der Machtzuwachs Brüssels
im Zuge der Ausdehnung auf nunmehr 25 Mitgliedsländer sowie
die EU-Erweiterungspläne in Richtung Rumänien, Bulgarien,
Kroatien und Türkei rücken Straßburg zusehends in
den Hintergrund: Auf dem Kontinent deckt die Europäische Union
mittlerweile eben vieles ab.
Rudolf Bindig, der seit 1988 in der
Deputiertenkammer des Europarats sitzt und dort derzeit die
18-köpfige Bundestagsdelegation leitet, zählt zu den
besten Kennern der altehrwürdigen Organisation. In seinem
Berliner Büro sinniert der SPD-Politiker über Standort
und Einfluss des Straßburger Staatenbunds.
Sicher, es sei nicht von der Hand zu weisen,
dass der Europarat "in gewisser Weise zwischen EU und OSZE
eingezwängt wird". Gleichwohl schaut Bindig optimistisch in
die Zukunft, besonders im Blick auf Osteuropa: In jener Region
hätten viele Staaten auf lange Sicht keine Chance, in die EU
aufgenommen zu werden, für diese Nationen werde das Palais
d'Europe das Forum für die Zugehörigkeit zu Europa
bleiben. Zudem seien im Osten des Kontinents Herausforderungen wie
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, unabhängige
Justiz oder Medienfreiheit noch keineswegs wirklich gemeistert,
"das ist noch eine ziemliche Baustelle". Die Parlamentarische
Versammlung, der Menschenrechtsgerichtshof, der
Menschenrechtskommissar, das Anti-Folter-Komitee, die
"Venedig-Kommission" als Verfassungsausschuss und andere
Einrichtungen des Staatenbunds hätten in jenen Gefilden noch
viel zu tun. Bindig: "In der öffentlichen Wahrnehmung wird der
Europarat oft unterschätzt, aber er spielt politisch eine
markante Rolle."
Allerdings sieht sich Straßburg auch in
Osteuropa zuweilen in die Defensive gedrängt, wie das Beispiel
Ukraine zeigt. Die aufregenden Umsturzwochen von Kiew mit den
Massendemonstrationen sind noch frisch in Erinnerung: Viktor
Juschtschenkow gewinnt den Kampf um die Macht gegen das Ancien
Régime. Viele mischen in jenen Tagen mit, Russlands
Präsident Wladimir Putin, die USA, Anrainerstaaten wie Polen,
auch EU-"Außenminister" Solana klinkt sich vor Ort ein. Einer
indes bleibt in den Stunden der Entscheidung außen vor: der
Europarat. "Wir wurden gezielt ausgebremst, von wem auch immer",
sagt Bindig.
Im Palais d'Europe empfand man das
Herausdrängen gerade in diesem Fall als bitter:
Schließlich hatte Straßburg durch zahlreiche kritische
Berichte über die autokratische Herrschaft von
Ex-Präsident Leonid Kutschma, über die Gängelung der
Medien, über den Mord an dem Journalisten Georgi Gongadse,
über die Benachteiligung der Opposition oder über die
Verfilzung von wirtschaftlicher und politischer Macht den
Gärungsprozess in dem Land wesentlich beflügelt. Der
Europarat ist bislang auch die einzige internationale Instanz, die
Juschtschenkow nachdrücklich auffordert, seine demokratischen
Versprechungen konkret in politische Reformen umzumünzen - die
nämlich sind bislang weithin ausgeblieben. Stattdessen
konzentrieren sich der neue Präsident, der immerhin dem
Warschauer Gipfel seine Reverenz erwies, und seine Entourage nun
darauf, die Ukraine möglichst bald in die EU und die NATO zu
führen.
Seine große Zeit hatte der Europarat,
der bis zur historischen Zäsur 89/90 vornehmlich ein
gepflegter Debattierclub westlicher Politiker war, in den
90er-Jahren: Als "Schule der Demokratie" (Bindig) setzte
Straßburg nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Mittel- und
Osteuropa Grundprinzipien demokratischer Rechtsstaatlichkeit durch.
Für jene Länder war die Aufnahme ins Palais d'Europe der
erste Schritt in die "europäische Familie". Für die
heutigen EU-Neumitglieder diente der Europarat als eine Art
"Durchlauferhitzer" auf dem Weg nach Brüssel, wo man zuerst
einmal das von Straßburg verliehene demokratische
Gütesiegel sehen wollte: Der paneuropäische Staatenbund
akzeptiert schließlich nur jene, die sich zur Anerkennung der
Menschenrechtscharta verpflichten. Seit der Zugehörigkeit zur
EU, anders als Straßburg eine gewaltige
Geldumverteilungsmaschine, ist das Interesse mancher östlicher
Nationen am Europarat etwas abgeflaut.
Die Berichte der Parlamentarischen
Versammlung über die Lage in einzelnen Ländern sind oft
von hoher substanzieller und kritischer Qualität.
Volksvertretungen wie Außenministerien auf nationaler Ebene
und selbst die EU stützen sich nicht selten auf solche
Studien. Als eindrucksvolle Beispiele können mehrere fundierte
Analysen über die Situation in Russland und Tschetschenien
gelten, die Rudolf Bindig wesentlich mit erarbeitet hat. Die
FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ein anderes
Beispiel, formulierte für den Europarat eine fulminante Kritik
an den rechtsstaatlichen Verstößen während des
Jukos-Prozesses gegen den Ölmagnaten Michail Chodorkowski -
keine andere internationale Institution hat Vergleichbares
vorgelegt. Die grüne Abgeordnete Marianne Tritz
präsentierte dieser Tage eine umfassende Bestandsaufnahme der
fragilen Lage im Kosovo.
In den betroffenen Ländern sorgen diese
Straßburger Resolutionen durchaus für Aufsehen. Freilich
mangelt es an der konsequenten Umsetzung der politischen
Forderungen durch die Adressaten der Kritik: Im Kaukasus wird immer
noch ein grausamer Krieg geführt, in Russland baut Putin trotz
des Protests des Europarats seine autokratische Herrschaft stetig
aus, dem verurteilten Chodorkowski half die Straßburger
Intervention ebenfalls nichts. Expertisen über westliche
Länder, etwa über die Zustände in Gefängnissen
diverser Staaten oder über Silvio Berlusconis
politisch-mediale Macht in Italien, finden ebenfalls meist keinen
starken Widerhall. Jedoch sind auch Erfolge zu vermelden: So hat
das hartnäckige Anprangern von Missständen in der
Türkei Reformen bei der dortigen Polizei und Justiz
beschleunigt.
Dem Europarat fehlt nun mal die Macht, seine
Politik in den Mitgliedsnationen zu exekutieren. Einmal entzog die
Parlamentarische Versammlung der russischen Delegation wegen der
Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien vorübergehend das
Stimmrecht. Ansonsten bleibt bei gravierenden Verstößen
gegen demokratisch-rechtsstaatliche Normen als einzige echte
Sanktion nur der Ausschluss aus dem Staatenbund: Vor solch einem
radikalen und spektakulären Schritt schreckt man
verständlicherweise zurück.
Als Präsident der
gesamteuropäischen Volksvertretung ruft René van der
Linden die Deputierten immer mal wieder auf, ihr Doppelmandat in
heimischen Parlamenten und in Straßburg zu nutzen, um in ihren
Ländern den Europarat besser zur Geltung zu bringen: "Mit
diesem Pfund müssen wir stärker wuchern." Mit diesem
Plädoyer legt der Holländer den Finger in eine Wunde: In
den meisten nationalen Abgeordnetenhäusern spielt der
Staatenbund nur eine geringe Rolle. Matthias Wissmann führt
Klage, dass auch im Bundestag Europa bislang nicht gerade ein
Top-Thema ist: Diese Feststellung des Vorsitzenden des
Europa-Ausschusses gilt für die EU und natürlich erst
recht für den Europarat.
Ernsthaft anpacken will man nun im Palais
d'Europe eine bessere Abstimmung mit EU und OSZE. Gespräche
zwischen diesen Organisationen finden auf verschiedenen Ebenen
häufig statt, wobei sich besonders der Europarat international
entschiedener ins Spiel zu bringen versucht. Schicken OSZE und
Europarat gemeinsam Wahlbeobachter auf den Balkan, nach Moldawien
oder Georgien, so pflegt bei der Bilanz dieser Missionen in den
Medien in erster Linie die OSZE zu Wort zu kommen.
Große Hoffnungen ruhen auf einem neuen
Konzept über die Beziehungen zwischen EU und Europarat, das
momentan der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker erarbeitet.
Nicht zuletzt geht es darum, "Doppeltätigkeiten" zwischen
Brüssel und Straßburg zu vermeiden. Van der Linden
appelliert an die EU, die Instrumente des Europarats beim
Engagement für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit intensiver
zu nutzen - etwa die parlamentarischen Überwachungsverfahren
in einzelnen Nationen (Monitoring), das Anti-Folterkomitee oder die
Venedig-Kommission mit ihren Verfassungsjuristen. Warum soll
Brüssel auf diesem Feld zusätzlich eigene Einrichtungen
schaffen? Vor allem fragt van der Linden nach dem Sinn der neuen
Menschenrechts-Agentur der EU angesichts der vielfältigen
Aktivitäten des Europarats in diesem Bereich.
In gewisser Weise stärken die Krise um
die EU-Verfassung und die sich abzeichnende Verlangsamung bei der
geplanten Ausdehnung der Brüsseler Gemeinschaft den
Straßburger Staatenbund: Die Menschenrechtskonvention des
Europarats dürfte auf absehbare Zeit die einzige international
verbindliche Charta der Grundrechte auf dem Kontinent bleiben - die
von den Bürgern beim Straßburger Gerichtshof auch
eingeklagt werden können. Und solange ein Land nicht der EU
angehört, ist es eben weiterhin auf den Europarat
"angewiesen".
Auffallend ist, dass sich die
altehrwürdige Organisation auch um neue Themenschwerpunkte
bemüht. So ist zusehends nicht mehr nur von der um Demokratie
und Rechtsstaat kreisenden Hauptaufgabe des Staatenbunds die Rede,
sondern etwa auch vom Vorgehen gegen Terrorismus, organisierte
Kriminalität und Geldwäsche. Ob man sich damit einen
Gefallen tut, dürfte freilich dahinstehen: Von seiner ganzen
Geschichte her gehört die Kriminalitätsbekämpfung
eigentlich nicht zur Bestimmung des Europarats, dessen Kernauftrag
seit jeher die Durchsetzung und Verteidigung freiheitlicher
Bürgerrechte gegen undemokratische Macht ist. Im Übrigen
hat das Palais d'Europe über die Verabschiedung von
Konventionen hinaus gegenüber den Mitgliedsländern keine
exekutiven Befugnisse etwa in Sachen Terrorismus.
Der britische Europarats-Generalsekretär
Terry Davis will sich nun daran machen, die Beschlüsse des
Warschauer Gipfels zu realisieren. So soll der Staatenbund ein
"Forum über die Zukunft der Demokratie" ins Leben rufen. Eine
noch zu benennende "Gruppe von Weisen" soll die
Menschenrechtscharta weiterentwickeln. Auf dem Programm steht der
Aufbau eines Zentrums für Fragen der kommunalen Demokratie.
Von einer speziellen "Task Force" erwartet man Strategien für
den sozialen Zusammenhalt auf dem Kontinent. Davis hofft, mit
solchen Initiativen ein "neues Kapitel" für den Europarat
aufschlagen zu können. Die neuen Gremien dürfen jedoch
keine Foren für "ausufernde Debatten" werden, warnt der
polnische Abgeordnete Wielowieyski, sonst drohten die frischen
Impulse rasch wieder verloren zu gehen.
Jean-Claude Juncker, dessen Bericht über
die Kooperation zwischen Brüssel und Straßburg mit
Spannung entgegengefiebert wird, hat schon mal ein beruhigendes
Versprechen gemacht, das man im Palais d'Europe gern hört: Die
EU müsse "dem Europarat den Platz zugestehen, der ihm
gebührt".
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