Karl-Otto Sattler
Die Macht der Richter
Straßburger Menschengerichtshof
Renate Jäger macht sich so ihre Gedanken. Seit Herbst 2004
sitzt die vormalige Bundesverfassungsrichterin in der erlesenen
Runde des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs. Rasch wurde
die Deutsche mit dem Alltag in der höchsten juristischen
Instanz auf dem Kontinent konfrontiert: Die 45 Europarats-Richter
drohen in einer Flut von jährlich an die 40.000 Klagen zu
ersticken, Zehntausende von Verfahren warten in einem Rückstau
noch auf ihre Abwicklung. Wie Präsident Luzius Wildhaber
(Schweiz) verlangt auch Jäger von den Mitgliedsnationen des
Staatenbunds eine bessere finanzielle Ausstattung des Gerichtshofs,
um dessen Effizienz zu steigern.
Bei einer Visite in Karlsruhe fügte sie dieser Forderung
indes eine bemerkenswerte Überlegung an. Vielleicht,
mutmaßte Jäger, sei es manchen Ländern als
"Nebeneffekt" der Überlastung des Gerichts ja gar nicht
unlieb, wenn Menschenrechtsverstöße "nicht oder nicht
zeitnah untersucht und gerügt werden". Möglicherweise
gebe es bei Regierungen, die wegen Verletzungen der
Menschenrechtscharta zu Schadensersatz verurteilt werden, einen
"Abschreckungseffekt" - mit der Konsequenz, dass den Staaten
"Verlangsamung, Stillstand und Leerlauf" eventuell nicht
unwillkommen seien.
Hoppla. Solche Worte lassen aufhorchen. Offenbar gehen Urteile
des Gerichtshofs nicht wenigen Regierungen gehörig auf die
Nerven. Das ist nicht verwunderlich, schließlich mischen die
blauschwarzen Roben das Rechtssystem und teils auch die
Innenpolitik in diversen Ländern zuweilen kräftig
auf.
Urteile mit politischer Tragweite
Auch wenn der Europarat als politische Instanz um seinen
Einfluss auf internationaler Ebene kämpfen muss: Der
Gerichtshof kann über mangelnde Resonanz nicht klagen. Ganz im
Gegenteil - Wildhabers Kollegium verbucht einen stetigen
Machtzuwachs. So demonstrierte etwa das Verdikt, beim Prozess gegen
den zu lebenslanger Haft verurteilten Kurdenführer Abdullah
Öcalan habe die Türkei rechtsstaatliche Standards
verletzt, erst unlängst die weitreichenden Wirkungen solcher
Entscheidungen: Dieser Spruch provoziert Verwerfungen in der
Innenpolitik am Bosporus und zeitigt sogar Konsequenzen für
die europäische Architektur, würde doch ohne eine von
Nationalisten heftig befehdete Neuauflage des Verfahrens gegen
Öcalan die von der Türkei erhoffte EU-Aufnahme in weite
Ferne rücken.
Das Gewicht der Europarats-Richter wurzelt im Doppelcharakter
ihrer Urteile. "Politische" Entscheidungen verkünden sie
natürlich nicht, das widerspräche rechtsstaatlichen
Prinzipien. Gleichwohl haben die Urteile nicht selten auch eine
große politische Tragweite, jedenfalls bei brisanten Klagen.
In der Türkei wären wohl kaum Reformen bei Polizei und
Justiz eingeleitet worden, wenn der Menschenrechtsgerichtshof
Ankara nicht häufig zu drastischen Schadensersatzzahlungen
verdonnert hätte. In Italien kamen Neuerungen im chronisch
schwerfälligen Justizwesen vor allem deshalb in Gang, weil
Straßburg unzählige Male eine extrem lange Prozessdauer
anprangerte.
Als die Europarats-Richter einer sterbenskranken
Engländerin den ersehnten vorzeitigen Tod verweigerten, hatte
dieser aufsehenerregende Spruch europaweit Auswirkungen auf die
Debatte über Sterbehilfe - und bei ihrer Frühjahrssession
verwarf die Parlamentarische Versammlung des Staatenbunds jedwede
Liberalisierung der "Euthanasie".
Eine Lanze für die Pressefreiheit brach Wildhabers Runde,
als sie sich bei einem Konflikt zwischen zwei ukrainischen
Präsidentschaftskandidaten und einer dortigen Zeitung auf die
Seite der Journalisten schlug: In einer Demokratie müssten
Politiker auch polemische Medienkritik hinnehmen, die sie als
"unwahr und ehrverletzend" empfinden.
Die Liste der Beispiele für die Machtfülle der
Europarats-Richter ließe sich fortsetzen. Ausgerechnet aus der
Bundesrepublik, wo bislang nur selten Verstöße gegen die
Menschenrechtscharta zu rügen waren, weht neuerdings
Gegenwind. Seit Ende vergangenen Jahres schwelt zwischen Karlsruhe
und Straßburg ein Streit um die Frage, welcher der beiden
Instanzen Vorrang gebührt.
Konflikt mit Karlsruhe
Besonders gefuchst hat die roten Roben das "Caroline-Urteil",
mit dem Wildhabers Kollegium gegen den Protest von Journalisten-
wie Verlegerverbänden in die Pressefreiheit eingriff und eine
entgegengesetzte Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts
aufhob: In Medien, so Straßburg, dürfen Prominente bei
privaten Aktivitäten im öffentlichen Leben wie etwa beim
Shopping oder beim Reiten am Strand nicht mehr ohne ihre Zustimmung
abgebildet werden.
Den Konflikt um einen Sorgerechtsfall nahm Karlsruhe dann zum
Anlass, den Kollegen vom Europarat bei einer Retourkutsche in die
Parade zu fahren: Deren Urteile müssten zwar von hiesigen
Gerichten bei der Rechtsprechung berücksichtigt werden, doch
habe die Menschenrechtscharta hierzulande nur den "Rang eines
Bundesgesetzes". Im Klartext: Das Grundgesetz steht im Zweifelsfall
über der Straßburger Konvention. Hans-Jürgen Papier,
Präsident in Karlsruhe, pflegt seither immer mal wieder
nachzulegen: Der Straßburger Gerichtshof, fordert er, solle
sich gegenüber der deutschen Rechtsprechung zurückhalten
und sich auf Grundsatzfragen beschränken.
Ein solch offener Widerstand eines nationalen
Verfassungsgerichts ist in der Geschichte des Europarats ohne
Beispiel. Wie dieser Machtkampf ausgeht, ist offen. Luzius
Wildhaber besteht jedenfalls darauf, dass die Straßburger
Urteile vollzogen werden. Nach dem Contra aus Karlsruhe berichtete
Wildhaber von Anfragen aus anderen Staaten, "ob man sich wirklich
in allen Punkten an unsere Entscheidungen halten müsse".
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