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Thilo Castner
Blutspuren völliger Verblendung
Jahrelang hielt die RAF die Bundesrepublik in
Atem
61 Tote, 230 zum Teil Schwerverletzte, ein
Sachschaden von insgesamt 500 Millionen Mark und elf Millionen
Seiten Ermittlungsakten - das ist die Bilanz des Terrors, die die
Rote Armee Fraktion hinterlassen hat. Bei mindestens 31
Banküberfällen wurden sieben Millionen Mark erbeutet,
mindestens 104 konspirative Wohnungen angemietet und 180 Fahrzeuge
gestohlen. Der Bilanz zuzurechnen sind auch über 1.000
Bundesbürger, die wegen ihrer "Mitgliedschaft in einer
terroristischen Vereinigung" oder deren Unterstützung
rechtskräftig verurteilt worden waren. Ein erheblicher Teil
der Straftaten konnte zudem bis heute nicht aufgeklärt werden,
so wer Hanns Martin Schleyer erschoss, wo die zahlreichen
angelegten Waffendepots und Geldverstecke liegen und wer zu den
letzten aktiven Mitgliedern der RAF zählt.
Der Journalist und Schriftsteller Butz Peters
hat das Geschehen erstmals akribisch und umfassend durchleuchtet,
vom Frankfurter Kaufhausbrand im Jahr 1968, als sich die RAF noch
gar nicht etabliert hatte, bis zu dem Desaster in Bad Kleinen 1993,
das mit der Tod des GSG-9-Polizeikomissars Michael Newrzella und
des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams endete. Seit der offizielle
"Auflösungserklärung" im April 1998 ist die RAF bis heute
spurlos von der Bildfläche verschwunden.
Drei Generationen
Raubüberfälle,
Sprengstoffanschläge auf US-Einrichtungen und Behörden,
Attentate auf prominente Militärs, Politiker und
Wirtschaftsführer - der Autor schildert an Hand von
Gerichtsurteilen, Augenzeugenberichten, Gefängnis-Kassibern,
RAF-Erklärungen und Untersuchungsakten nicht nur die einzelnen
Vorfälle außerordentlich detailliert, sondern beschreibt
auch die Täter, ihre Motive und ideologischen
Rechtfertigungen, die minutiöse Vorbereitung und den
präzisen Ablauf der Terrorakte sowie die Entwicklungen
innerhalb der RAF, die immer wieder gekennzeichnet waren durch
interne Machtkämpfe, gegenseitige Ausgrenzungen und
Abspaltungen.
Hierbei unterscheidet Peters zwischen drei
"Generationen". Die erste Generation (1970-72), geprägt von
Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, wollte den
Kapitalismus und Imperialismus in der Bundesrepublik durch
"bewaffneten Kampf" überwinden. Als Vorbild galt das Vorgehen
der Stadtguerilla in Südamerika. Menschenopfer wurden von
Anfang an kaltblütig einkalkuliert. Natürlich dürfe
geschossen werden, hatte Ulrike Meinhof lange vor den ersten
Blutopfern verkündet, anders sei das verhasste
"Schweinesystem", der "Polizeistaat", nicht in die Enge zu treiben.
Ganze Waffenarsenale standen der RAF zur Verfügung, der Umgang
mit Schusswaffen aller Art wurde in Trainingscamps der El-Fatah
erworben.
Als die führenden Köpfe verhaftet
waren, übernahm die zweite "Generation" (1974-82) das
Kommando, angeführt von Brigitte Mohnhaupt, Adelheid Schulz
und Christian Klar. Ihr Hauptziel: Freipressung der Gefangenen in
Stammheim. Das Vorhaben misslang, trotz der Besetzung der deutschen
Botschaft in Stockholm, trotz der Entführung der
Lufthansamaschine "Landshut" und der Ermordungen von
Arbeitgeberpräsident Schleyer und Generalbundesanwalt
Siegfried Buback. Mit dem Selbstmord von Baader, Ensslin und Raspe
wurde die politische Isolation der RAF immer offensichtlicher. Die
ersten RAF-Aussteiger, frustriert und desillusioniert, fanden unter
den Fittichen der Stasi bequemen Unterschlupf.
Nach der Verhaftung des Trios Mohnhaupt, Klar
und Schulz führte die dritte Generation (1984-98) den
aussichtslosen Kampf weiter. Nur kurzfristig gelang die
Zusammenarbeit mit der Action Directe und den Roten Brigaden. Nach
der Ermordung des MTU-Chefs Ernst Zimmermann, des
Deutsche-Bank-Vorsitzenden Alfred Herrhausen, des Diplomaten Gerold
von Braunmühl und des Treuhandchefs Detlef Carsten Rohwedder
sowie der Sprengung der brandneuen Gefängnisanlage in
Weiterstadt - Sachschaden 123 Millionen Mark - hatte die Isolation
ein Ausmaß erreicht, dass die Entscheidung, den Kampf
einzustellen und die RAF als beendet zu erklären,
unumgänglich geworden war.
Aus den besten Kreisen
Wie ist es möglich, dass eine
verschwindend kleine Gruppe die Republik jahrelang in Atem halten
konnte? Peters verweist auf die Schwierigkeiten, die Polizei und
Staatsschutz anfangs hatten, sich auf Mentalität und Ziele der
RAF einzustellen. Man kannte sich zwar aus mit "gewöhnlichen"
Kriminellen, nicht aber mit Intellektuellen, die überwiegend
aus besten Kreisen stammten, die sich nicht persönlich
bereichern wollten, für ihr Handeln moralische Argumente
vorgaben.
Als sich das Bundeskriminalamt unter
Führung von Horst Herold auf die neue Situation eingestellt
hatte und mit Rasterfahndungen Erfolge erzielte, konterte die RAF
mit einer nahezu perfekten Verfeinerung ihrer Methoden. Man mietete
keine Wohnungen mehr an, sondern lebte in Untermiete,
hinterließ in den aufgegebenen Wohnungen und abgestellten
Autos so gut wie keine Spuren. So wurden von den 22 bekannten
Straftaten der dritten Generation bis jetzt lediglich zwei
aufgeklärt.
Was der Autor in seiner vorzüglichen,
für den Leser oft beklemmenden Untersuchung noch nicht leisten
konnte, ist die befriedigende Antwort auf die Frage, was begabte
junge Menschen dazu brachte, einen derart mörderischen und
zugleich sinnlosen Kampf zu beginnen. Anlässe, das
autoritär-stockkonservative Gesellschaftssystem Ende der
60er-Jahre kritisch zu hinterfragen, gab es natürlich viele,
etwa das rüde Vorgehen der Polizei gegen aufmüpfige junge
Leute, die Nichtbefassung mit der NS-Vergangenheit, der
Vietnamkrieg, das überholte, demokratieferne Erziehungs- und
Bildungssystem, die unfaire und einseitige Berichterstattung in
Teilen der Medien.
Das Abgleiten in den Terrorismus, die
völlige Mitleidlosigkeit gegenüber unschuldigen Opfern,
muss jedoch auch Ursachen haben, die in der individuellen
Sozialisation und im Charakter der Betroffenen zu suchen sind.
Insofern kann die Geschichte der RAF erst dann als erschöpfend
aufgearbeitet gelten, wenn die Psychostruktur von Baader, Meinhof
und Co. eingehend analysiert worden ist.
Butz Peters
Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der
RAF.
Argon Verlag, Berlin 2004; 863 S., 24,80
Euro
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