Michael Hereth
Der zweite Entdecker Amerikas
Zum 200. Geburtstag von Alexis de
Tocqueville
Die Gemeindeeinrichtungen sind für die Freiheit, was die
Volksschulen für die Wissenschaft sind; sie machen sie dem
Volke zugänglich; sie wecken in ihm den Geschmack an ihrem
freiheitlichen Gebrauch und gewöhnen es daran. Ohne
Gemeindeeinrichtungen kann sich ein Volk eine freie Regierung
geben, aber den Geist der Freiheit besitzt es nicht." Der junge
Adlige aus dem revolutionsgeschundenen Frankreich, der dies
niederschrieb, durchreiste 1831/32 zusammen mit einem Freund und
Gefährten die noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika.
Tocqueville wollte studieren, worum es sich bei dieser
amerikanischen Demokratie eigentlich handle. Das Ergebnis dieses
Studiums ist eines der herausragendsten Werke der modernen
politischen Wissenschaft geworden. Der für das Beobachten und
Verstehen sozialer und politischer Erscheinungen hochbegabte Alexis
de Tocqueville schrieb mit "Über die Demokratie in Amerika"
einen Bestseller. Was er in Amerika ent-deckte und was er in seinem
zweiten Werk über die französische Revolution
bestätigte und vertiefte, war die Einsicht, dass Demokratien
nicht allein das Ergebnis erfolgreicher Revolutionen, sondern
bestimmter ziviler Verhaltensmuster sind, zu denen die Verfassung
von Gesellschaft und Politik die Bürger erziehen muss.
Das Buch von Karlfriedrich Herb und Oliver Hidalgo über den
klugen französischen Adeligen versucht, die Denk- und
Lebenswelt dieses herausragenden und noch dazu verständlich
schreibenden Theoretikers der Demokratie nachzuzeichnen. Nach einer
kurzen Darstellung der Spannung zwischen Gleichheit und Freiheit,
die für die meisten Analytiker von Tocquevilles Werk das
Zentrum seiner Untersuchungen der amerikanischen Demokratie sei,
behandelt das dritte Kapitel die Hauptgedanken des Buches über
Amerika. Kapitel 4 gibt einen kurzen Einblick in die politischen
Aktivitäten Tocquevilles, das 5. Kapitel behandelt dessen
Analyse der Bedingtheit der Französischen Revolution durch
geschichtliche Entwicklungen. An ein Kapitel "Liberalismus der
neuen Art" schliessen sich eine Kurzdarstellung der
Rezeptionsgeschichte und ein Literaturverzeichnis an.
Am 29. Juli 2005 jährte sich der Geburtstag des Alexis de
Tocqueville zum 200. Male. So ist es gut, dass man sich über
ihn informiert. Als eine Einführung in die Gedankenwelt des
ersten Denkers, der die moderne Großflächendemokratie der
Vereinigten Staaten von Amerika einer Analyse unterwarf, ist dieses
Buch brauchbar, auch wenn die Autoren für den Geschmack des
Rezensenten ein wenig mühsam mit der Einordnung Tocquevilles
in die Denkschulen der modernen politischen Wissenschaft
beschäftigt sind.
Die Frage, ob eine derartige Untersuchung auch den praktischen
Politiker (Tocqueville war von 1837 bis zum Putsch von Napoleon
III. aktiver Parlamentarier, nach 1848 sogar kurze Zeit
Aussenminister) umfassen soll, muss anlässlich dieses Buches
allerdings gestellt werden. Wenn man die
bürgerlich-politischen Aktivitäten Tocquevilles
tatsächlich in einer Einführung behandelt, kann man dies
nicht wie Herb und Hidalgo locker über die Probleme
hinweghuschend und unter Aussparung des in der Tat
äußerst problematischen Teils seines politischen Handelns
tun.
Tocqueville war davon überzeugt, dass das Zentrum seines
politischen Wirkens die Algerien-Frage war. Er war eine der
Hauptfiguren in den stürmischen Debatten der
französischen Nationalversammlung um die Eroberung Algeriens.
Er hat zu diesem Bereich mehrere Abhandlungen geschrieben; er ist
der Kopf mehrerer Parlamentskommissionen und Verfasser ihrer
Berichte. Tocqueville hat im Parlament mehrmals zu Algerien
geredet.
Die Autoren erwecken in einer Fußnote (S.87) den Eindruck,
die einschlägigen Dokumente, zumindest die Notizen einer Reise
durch Algerien, seien verloren gegangen. Dies ist irreführend.
Beträchtliche Fragmente sind in der Pléijade-Ausgabe der
Werke, die eigenartigerweise bei Herb/Hidalgo gar nicht
erwähnt oder bibliographiert ist, veröffentlicht. Der
dritte Band der vollständigen Werke veröffentlicht zudem
auf über 300 Seiten Dokumente zur Algerien-Politik
Tocquevilles, die von Herb/Hidalgo ignoriert werden. Die Autoren
reden nur von einem Reisebericht, der im fünften Band
veröffentlicht ist.
Kein Wunder also, dass die gesamte Algerien-Frage im Buch nicht
behandelt wird. Diese ist nicht ohne Bedeutung. Im Gegensatz zu
seinen besonders im Amerika-Buch entwickelten Gedanken
bürgerlicher Gleichheit hat Alexis de Tocqueville die
Eroberung Algeriens sowie die Unterwerfung der Völker dieses
Landstriches ebenso befürwortet wie die dann ja von Frankreich
geschaffene Gesellschaftsordnung: Das Land beherrschende,
besitzende, regierende und verwaltende Europäer, denen die
"Eingeborenen" als Ungleiche dienten.
Bei Herb/Hidalgo liest sich das so: "Sogar Tocquevilles
imperialistische Vorstellungen korrespondieren bei näherem
Hinsehen einer Überzeugung, die er schon in seinem Amerikabuch
äußert. Gemeint ist das Vertrauen in die
Überlegenheit der christlichen gegenüber der islamischen
oder hinduistischen Kultur. Die Eroberung Asiens und Afrikas durch
das christliche Abendland scheint unter dieser Prämisse wenig
problematisch."
Problematisch scheint mir an dieser Aussage einmal, ob es das
"christliche" Abendland war, das da eroberte oder nicht vielmehr
ein aus den Fugen geratenes nicht mehr christliches Europa; zum
anderen aber ist es eine flotte Konklusion zu meinen, wer
überlegen sei, dürfe auch erobern. Vielleicht liegt hier
- man kann offen lassen, ob dies nur für die Autoren oder auch
für Tocqueville gilt - eine problematische Gleichsetzung von
Liberalismus und Darwinismus vor.
Karlfriedrich Herb / Oliver Hidalgo
Alexis de Tocqueville.
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2005; 176 S., 12,90
Euro
Zurück zur
Übersicht
|