Sabine Quenot
Tour de Force in 118 Tagen
Wie sich der Bundestag auf die anstehenden
Neuwahlen vorbereitet
Wir brauchen ungummierte Briefumschläge. Aber wer stellt so
was überhaupt noch her?", diese Frage bewegt Paul Thelen in
den Wochen vor der Bundestagswahl. Denn für die
konstituierende Sitzung des neuen Bundestages wird der Leiter des
Tagungsbüros zum Großbesteller für aus der Mode
gekommenen Bürobedarf. Für die geheime Wahl des neuen
Bundeskanzlers oder der neuen Bundeskanzlerin, des
Bundestagspräsidenten und der Vizepräsidenten ordert er
20.000 solcher Kuverts. "Für den Fall, dass es mehrere
Wahlgänge gibt, sind bei etwa 600 Abgeordneten schnell ein
paar Tausende verbraucht", sagt Thelen. Und würden die
Abgeordneten ihre Stimmzettel in Umschlägen zukleben,
würden die Schriftführer beim Öffnen der Wahlbriefe
schier verzweifeln und das Ergebnis müsste länger auf
sich warten lassen.
Die Verwaltungspragmatiker des Sachbereichs Plenardienste des
Deutschen Bundestages sind eingespielte Profis für den
Plenaralltag und alle Wechselfälle des parlamentarischen
Lebens. Normalerweise beginnen die Vorbereitungen der Verwaltung
ein Jahr vor der Wahl. Der leitende Plenardienstleister Johannes
May und Paul Thelen vom Tagungsbüro wurden, wie die ganze
Republik, von den potentiellen vorgezogenen Wahlen überrascht.
Gleich nach der Ankündigung von Bundeskanzler Gerhard
Schröder am 23. Mai 2005, die Vertrauensfrage zu stellen,
begann also die Planung - zunächst nur auf dem Papier
wohlgemerkt, mit aller Rücksicht auf die ausstehende
Entscheidung des Bundespräsidenten. Hätten sie aber erst
nach Horst Köhlers Anordnung von Neuwahlen mit der Planung
begonnen, wäre das einfach zu knapp gewesen.
Sendezentrum Reichstag
Während die Parteien ihre Kandidaten ins Land schicken und
sich im Fernsehen wortreich duellieren, laufen die Vorbereitungen
des Plenardienstes für den Wechsel der Wahlperioden auf
Hochtouren. Und auch die Pressestelle macht sich in den 118 Tagen
zwischen Schröders Ankündigung und der Bundestagswahl auf
zu einer Tour de Force. Erstes und wichtigstes Etappenziel für
alle ist der Wahltag.
Im Reichstagsgebäude müssen der Bundeswahlleiter, die
Forschungsgruppe Wahlen und die Medien, vom freien Journalisten bis
zum Fernsehteam für Live-Sendungen, untergebracht werden. Das
bedeutet vor allem viel Technik. Die Sender bringen zwar ihre
Übertragungstechnik und Aufbauten selbst mit, aber dennoch
müssen Räume organisiert, Telefonleitungen geschaltet,
alle Beteiligten akkreditiert und Besucherschleusen eingerichtet
werden.
Damit die Zuschauer im In- und Ausland die Wahl auf den
Bildschirmen, im Internet und in den Zeitungen mitverfolgen
können, beginnen rund 4.000 Mitarbeiter der Sender und
Dienstleister eine Woche vor der Wahl, ihre TV-Studios aufzubauen,
Kabel zu verlegen, Kräne und Podeste für Kameras
aufzustellen. Die gesamte Westlobby wird zu einem Fernsehstudio
für alle öffentlich-rechtlichen und privaten Sender,
sogar auf dem Dach des Reichstagsgebäudes wird es
Gesprächsrunden und Kameras mit Blick auf das Kanzleramt
geben. Insgesamt sind rund 200 Journalisten mit der
Berichterstattung beschäftigt.
Für die internationalen Fernsehsender verwandelt sich die
Halle des Paul-Löbe-Hauses in ein 1.000 Quadratmeter
großes Sendezentrum. Dort richtet die EBU (European
Broadcasting Union) 40 Redaktionskabinen ein, komplett ausgestattet
mit Telekommunikation und insgesamt 14 Schnittplätzen.
Aktuelles Filmmaterial bekommen die angereisten Journalisten
ebenfalls von der EBU.
"Eine Big Party wird es im Reichstagsgebäude aber nicht
geben, wie einige immer wieder erwarten", sagt Hans Hotter,
Pressesprecher des Deutschen Bundestages. Freude und
Enttäuschung über das Wahlergebnis sind eher bei den
Parteienzentralen hautnah zu erleben. Dennoch wird der Bundestag in
diesen Tagen besonders geschützt: Um das
Reichstagsgebäude werden alle Straßen gesperrt, nur die
Westseite bleibt "aus optischen Gründen" frei, wie Hotter
sagt. Für die Kuppelbesucher bleibt das Haus aber
geöffnet.
"Starter Kit" für Abgeordnete
Zweites Etappenziel ist der Montag nach der Wahl. Die neuen oder
wieder gewählten Abgeordneten stehen fest. An sie werden
Glückwunschschreiben verschickt. Außerdem sollen
möglichst schon in der Nacht alle Kandidaten im Bundestag
abrufbar sein. Das Tagungsbüro gibt deshalb schon Wochen
vorher die Kandidaten in das System. Dann streichen sie einfach die
nicht Gewählten. So haben sie die Ergebnisliste mit allen
nötigen Angaben parat, sogar sortiert und ausgewertet: Wer ist
der jüngste, wer der älteste Abgeordnete? Wie viele
Frauen sitzen im künftigen Bundestag und welche Fraktion
erhält wie viele Sitze?
Das ist wichtig, denn schon am zweiten Tag nach der Wahl
empfängt das Tagungsbüro die Abgeordneten zur ersten
Fraktionssitzung vor dem Sitzungssaal. Dort nehmen die Abgeordneten
formal ihr Mandat an. Dazu erhalten sie eine Art "Starter Kit",
eine hilfreiche Mappe, in dem ihr vorläufiger
Abgeordnetenausweis steckt, aber auch ein Wegweiser durch das
Parlament und Informationen der Verwaltung. Darin erfahren die
Neulinge zum Beispiel, wie sie Büromitarbeiter einstellen und
Reisekosten abrechnen.
Spätestens jetzt zahlt sich die gute Vorbereitung der
Plenardienste aus. Wenn alle Rädchen rechtzeitig gestellt
wurden, haben sie im richtigen Moment ineinander gegriffen und die
neue Wahlperiode zum Laufen gebracht. Denn von der rechtzeitigen
Bestellung der Blankovordrucke für die Abgeordnetenausweise
bei der Bundesdruckerei, über die Ledermäppchen,
Klarsichthüllen und Stempel, bis hin zur Anschaffung einer
zukunftssicheren Pass-Schreibmaschine mit dokumentensicherer Tinte
- an alles musste gedacht werden. Das bedeutet allerdings auch,
immer wieder wie Don Quijote mit den Mühlen des
Verwaltungsapparates zu ringen. Nicht selten dient schon mal der
übernächste Haushalt als Finanzier akuter
Bedürfnisse.
Doch vorher steht noch Etappenziel vier vor der Tür. "Zur
konstituierenden Sitzung Mitte Oktober muss das ganze Handwerkszeug
vorliegen, auch wenn es nicht sofort gebraucht wird", sagt Thelen.
Das sind vor allem die farbigen Stimmkarten aus Plastik, von denen
jeder Parlamentarier zunächst 100 Stück bekommt. Die
herstellende Firma ist durch Ausschreibung längst ermittelt,
sie wartet nur noch auf die Namen der Abgeordneten der 16.
Wahlperiode für den Aufdruck. Das neue Telefonbuch mit
mehreren tausend Nummern aller Mitarbeiter und Abgeordneten sowie
den Einrichtungen des Bundestages, essentiell für den
Parlamentsbetrieb, ist dann auch in Arbeit, genauso wie die
Erstellung neuer Büroschilder.
Dann bleibt nur noch eine Frage: Wer wird wo im Plenarsaal
sitzen? Wer sitzt ganz links oder neben dem linken
Außenflügel?
Damit beschäftigen sich die Parlamentsrechtler schon jetzt
hinter verschlossenen Türen. Die Verwaltung, die
Vorschläge macht für die Bestuhlung im Plenarsaal,
hält sich aber lieber fern von Spekulationen und bemüht
höchstens die Vergangenheit. Letztendlich wird der so genannte
Vor-Ältestenrat das überparteiliche Machtwort über
solche heiklen Fragen sprechen.
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