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Eckhard Jesse
Von Sperrklauseln und Überhangsmandaten
Das Wahlverfahren zum Deutschen Bundestag seit
1949 und seine Feinheiten
Die Wahl ist ein wesentliches Element des
demokratischen Verfassungsstaates. Alle wahlberechtigten
Bürgerinnen und Bürger haben die Möglichkeit, ihr
Votum abzugeben. Am 18. September wählen die Deutschen zum 16.
Mal den Bundestag. Es sind nach 1972 und 1983 die dritten
vorgezogenen Wahlen auf Bundesebene. Das ist ein Zeichen für
die große Stabilität der zweiten deutschen Demokratie.
Anders war dies in der Weimarer Republik, der ersten Demokratie in
Deutschland. Keine einzige Legislaturperiode dauerte die volle
Zeit.
Im Jahr 1972 tobte in der Bundesrepublik eine
konfliktreiche Auseinandersetzung um die neue Ostpolitik. Die Union
verzeichnete "Überläufer" aus den Reihen der
Regierungsparteien. Der Versuch Rainer Barzels, Willy Brandt mit
Hilfe des Konstruktiven Misstrauensvotums zu stürzen, schlug
fehl. Ihm fehlten zwei Stimmen. Aber auch Brandt mangelte es bei
der anschließenden Abstimmung über den Haushalt an einer
Mehrheit. Allerdings ratifizierte der Bundestag danach die
Ostverträge. Der Kanzler musste die Vertrauensfrage stellen,
da anders die Patt-Situation nicht zu beseitigen war. Die
vorgezogenen Wahlen bescherten der SPD, der zum ersten Mal
stärksten Partei, und ihrem Koalitionspartner FDP einen
Triumph.
Im Laufe des Jahres 1982 spitzten sich die
Konflikte innerhalb der sozial-liberalen Koalition zu.
Bundeskanzler Helmut Schmidt trat die Flucht nach vorn an, gab das
Ende der Koalition bekannt und fand sich zu sofortigen Neuwahlen
mit Hilfe der Vertrauensfrage bereit. Doch wählten Union und
FDP stattdessen Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 mit Hilfe des
Konstruktiven Misstrauensvotums zum Bundeskanzler. Kohl teilte die
Position, dass die neue Regierung einem Wählervotum nicht
ausweichen dürfe, stellte am 17. Dezember die Vertrauensfrage
und verlor sie wie gewünscht. Bundespräsident Karl
Carstens löste das Parlament auf, machte damit den Weg
für Neuwahlen im März 1983 frei, welche die Union klar
gewann. Zuvor hatte das von Mitgliedern des Bundestages angerufene
Bundesverfassungsgericht mit sechs zu zwei Stimmen die
Parlamentsauffösung als rechtens erachtet.
Nach der Wahlniederlage am 22. Mai dieses
Jahres in Nordrhein-Westfalen - damit war die letzte rot-grüne
Koalition auf Landesebene abgewählt - sah Bundeskanzler
Gerhard Schröder keine sichere Kanzlermehrheit mehr und suchte
mit der Neuwahl eine Abstimmung über seine Reformpolitik zu
ermöglichen. Der Weg zu diesen führte nur über die
komplizierte Prozedur der Vertrauensfrage. Am 1. Juli stellte
Gerhard Schröder die Vertrauensfrage. Er begründete diese
mit seiner nicht mehr vollen Handlungsfähigkeit. 151
Parlamentarier votierten mit Ja - vor allem aus den Reihen der SPD
-, 148 enthielten sich und 296 stimmten mit Nein - alle Unions- und
FDP-Abgeordneten sowie die Fraktionslosen Martin Hohmann, Gesine
Lötzsch und Petra Pau.
Auflösung des Parlaments
Bundespräsident Horst Köhler
versagte sich in seiner Fernsehansprache vom 21. Juli nicht dem
Wunsch Schröders, löste das Parlament auf und setzte
Neuwahlen für den 18. September an. Er sprach die gewaltigen
Aufgaben der Deutschen an: Arbeitslosigkeit, kritische Lage der
Haushalte, Krise der föderalen Ordnung, demografische
Probleme. Die Begründung für seinen Schritt orientierte
sich eng am Urteil des Bundesverfassungsgerichts von
1983.
Den beiden Klagen der Bundestagsabgeordneten
Jelena Hoffmann (SPD) und Werner Schulz (Bündnis
90/Grüne) gab das Bundesverfassungsgericht nicht statt. Es
mochte nicht dem Kanzler, dem Parlament und dem Präsidenten
eine schallende Ohrfeige erteilen, zumal alle Parteien Neuwahlen
wünschten.
Nach der absoluten Mehrheitswahl im
Kaiserreich wurde in der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer
Republik, ein reines Verhältniswahlsystem eingeführt.
Nach 1945 ist ein heftiger und bis heute noch andauernder Streit
darüber entbrannt, ob und inwiefern das reine
Verhältniswahlsystem den Untergang der Weimarer Republik
herbeigeführt oder doch zumindest beschleunigt hat. Wer dies
bejaht, nennt die Parteienzersplitterung, die extremen Pluralismus
begünstigt, die Desintegration gefördert und die
Radikalisierung nicht gebremst habe; die unpersönliche
Listenwahl mit ihrer Tendenz zur Verstärkung der ohnehin
erheblichen Parlamentsverdrossenheit; die fehlenden
institutionellen Regelungen zur Bekämpfung von
Splitterparteien. Gegner einer solchen Auffassung wenden ein, damit
werde dem Wahlsystem überhöhte Bedeutung zugemessen und
die Vielfalt des Ursachenbündels für den Untergang der
Demokratie ignoriert. Das Parteiengefüge wäre wohl kaum
durch ein Mehrheitswahlsystem grundlegend umgeformt
worden.
In der Tat sind diese Argumente schwerlich
von der Hand zu weisen. Im übrigen beeinträchtigte nicht
so sehr die Vielzahl der Parteien die Funktionsfähigkeit der
Weimarer Demokratie als vielmehr die mangelnde Koalitionswilligkeit
der großen Parteien untereinander. Vor allem aber ist der
Hinweis auf die Mehrheitswahl unhistorisch, da die Einführung
dieses Wahlverfahrens in der Weimarer Republik nicht ernsthaft zur
Diskussion stand.
In deutlichem Kontrast zur Beständigkeit
des Wahlsystems in der Bundesrepublik stehen die verschiedenen
Reformbestrebungen. Sie blieben gleichwohl ohne Erfolg. Der
Parlamentarische Rat, der sich eingehend mit dem Wahlrecht befasst
hatte, lehnte eine Verankerung des Wahlsystems in der Verfassung
ab, um seine Änderung nicht zu erschweren. Im
Parlamentarischen Rat konnte sich die Union, die ein relatives
Mehrheitswahlsystem einführen wollte, gegen die SPD und gegen
die kleineren anderen Parteien nicht durchsetzen. Das erste
Wahlgesetz galt ebenso nur für eine Legislaturperiode wie das
nächste. Im Jahre 1953 scheiterte der Versuch der Koalition
unter Führung der Union insbesondere an Protesten der
öffentlichen Meinung, eine Art "Mischsystem" zu verabschieden
- der nach dem damaligen Innenminister genannte Lehr'sche
Gesetzentwurf. Das von der CDU/CSU und der DP im Jahre 1956
initiierte Projekt des so genannten "Grabenwahlsystems" schlug
ebenso fehl. Die eine Hälfte der Abgeordneten sollte mittels
relativer Mehrheitswahl gewählt werden, die andere nach dem
Verhältnisprinzip. Die FDP verließ unter anderem deswegen
die Koalition. Das neue Wahlgesetz von 1956 hatte definitiven
Charakter und gilt im Wesentlichen noch heute.
Verliefen die abtastenden und informellen
Gespräche zwischen der Union und der SPD nach der
"Spiegel"-Affäre im Jahre 1962 zwecks Einführung einer
Großen Koalition und eines mehrheitsbildenden Wahlsystems noch
ergebnislos, so standen Ende 1966 die Zeichen für eine
Änderung des Wahlsystems gut. Die Große Koalition unter
Kurt-Georg Kiesinger wollte ein mehrheitsbildendes Wahlsystem
installieren. Doch die Reform scheiterte am Widerstand von Teilen
der öffentlichen Meinung, der FDP und vor allem auch der SPD,
die einerseits befürchtete, "ewiger Verlierer" zu werden, und
andererseits ihren möglichen Koalitionspartner, die FDP, nicht
vor den Kopf stoßen wollte. Die letzte Wahlsystemdiskussion
1967/68 wurde so intensiv wie erregt geführt. Im März
1968 trat Bundesinnenminister Paul Lücke von seinem Amt
zurück, weil die SPD auf ihrem Nürnberger Parteitag
desselben Monats das Thema "Wahlrechtsreform" vertagt
hatte.
Seit dieser Zeit hat die Thematik jegliche
Aktualität verloren, und eine Änderung des Wahlsystems
ist in politischen Kreisen nicht mehr erwogen worden. Das geltende
Verhältniswahlsystem ist unumstritten. Vergleicht man die
Haltung der Parteien zur Wahlrechtsfrage, so hat die Union mit
ihrer guten Ausgangsposition wenig anzufangen gewusst und die sich
ihr bietenden Chancen zugunsten eines zumindest partiell
mehrheitsbildenden Systems nicht genutzt. Die SPD, zunächst
aus weltanschaulichen Gründen, unabhängig von der
Interessenlage, auf die Verhältniswahl fixiert, lockerte
später ihre Haltung zur Wahlsystemfrage - bedingt durch ihre
dauernde Erfolglosigkeit sowie durch die Relativierung des
mechanischen Gleichheitsgedankens. Das finessenreiche Taktieren zur
Zeit der Großen Koalition war in mancher Hinsicht eine
Meisterleistung insbesondere Herbert Wehners. Wie immer das
Wahlergebnis ausgefallen wäre - eine absolute Mehrheit
für die Union einmal außer Acht gelassen -, die SPD
hätte stets an der Regierung beteiligt werden müssen. Die
Präferenz der Liberalen für die Verhältniswahl war
keineswegs von vornherein ausgemacht, weil bei ihnen in der
Vergangenheit die geeignete Führungsauslese ein wesentliches
Beurteiligungskriterium für den jeweiligen Wahlmodus gebildet
hatte. Doch schon bald überlagerten die existentiellen
Interessen alle anderen Erwägungen. Bei den Wahlgesetzen von
1949, 1953 und 1956 war die FDP das sprichwörtliche
"Zünglein an der Waage". Auch später ging der Kelch einer
Wahlrechtsreform an ihr vorüber.
Alle Parteien berücksichtigten bei der
Wahlrechtsgestaltung ausgiebig die eigenen - tatsächlichen
oder vermeintlichen - Interessen. Wahlrechtsfragen sind zumeist
Machtfragen. Bestimmten Interessenkonstellationen demnach den
jeweiligen Verlauf der Debatten, die immer dann ausbrachen, wenn
sich die Möglichkeit für eine Änderung abzeichnete,
so kontrastierte damit eine geradezu stereotyp an den Tag gelegte
Überparteilichkeitsideologie, der sich die Parteien zu eigen
machten und mit der sie Interessen der anderen als "egoistisch"
einzustufen beliebten.
Das Wahlrecht gilt vielfach als eine
staubtrockene Materie. Dabei ist das gar nicht der Fall. Das
Wahlsystem wandelt Stimmen in Mandate um. Es liegt auf der Hand,
dass das Wahlergebnis stark vom Wahlsystem abhängt. Bei einer
relativen Mehrheitswahl - gewählt ist, wer im Wahlkreis die
meisten Stimmen erreicht - käme es zu einer Alleinregierung
von CDU/CSU oder SPD. Die anderen Parteien könnten nur wenige
oder gar keine Direktmandate erreichen, wobei freilich folgender
Umstand zu berücksichtigen ist: Die Zahl der Wahlkreise
würde sich verdoppeln und deren Größe sich
halbieren.
Die PDS erzielte 1990 ein einziges
Direktmandat, 1994 und 1998 jeweils vier und 2002 nur zwei
Direktmandate. Die FDP gewann nur 1990 ein einziges Direktmandat
(von den Jahren 1949, 1953 und 1957 abgesehen), und die Grünen
erlangten lediglich bei der letzten Bundestagswahl ein
Direktmandat. Das jeweilige Wahlsystem bestimmt nicht nur das
Parteiensystem, sondern ändert auch das Wahlverhalten. Um bei
dem Beispiel zu bleiben: Ein Teil der bisherigen Wähler der
FDP, der Grünen oder der PDS würde "ihrer" Partei den
Rücken kehren, damit die Stimme nicht in den "Papierkorb"
wandert.
Historische Erfahrungen
Das Grundgesetz hat mannigfache Folgerungen
aus der leidvollen historischen Erfahrung gezogen. Am wenigsten
gilt dies für das Wahlrecht. Zwar wurde es nicht wieder in der
Verfassung verankert, um seine Änderung zu erleichtern, aber
diejenigen, die in den Bundestagsdebatten an Weimar erinnerten,
konnten sich nicht durchsetzen, sieht man einmal davon ab, dass
einerseits durch die Kandidatenaufstellung und die Schaffung von
Einerwahlkreisen der in der Weimarer Republik vehement beklagten
Anonymität der Liste jedenfalls zum Teil abgeholfen wurde wie
andererseits der Parteienzersplitterung aufgrund der Sperrklausel.
Es ist insofern eine Paradoxie, als damit die Anhänger der
Verhältniswahl, die sich nicht vom Weimarer Trauma leiten
lassen wollten, viel stärker die Weimarer Erfahrungen
rezipierten als ihre Gegner. Denn seinerzeit wurde, was viele
übersehen, mehr gegen das Listenwahlsystem gewettert als gegen
die Verhältniswahl.
Gemäß Artikel 38 Grundgesetz
wählen die Bürger die Abgeordneten in allgemeiner,
unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl. Eine Wahlpflicht
besteht nicht. Wahlberechtigt ist (aktives Wahlrecht), wer das 18.
Lebensjahr vollendet hat. Durch das 1975 in Kraft getretene Gesetz
zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters beginnt die
Volljährigkeit mit der Vollendung des 18. Lebensjahres - und
damit auch das Recht, gewählt zu werden (passives
Wahlrecht).
Erst- und Zweitstimme
Jeder Wähler hat zwei Stimmen. Mit der
Erststimme votiert er für den Wahlkreiskandidaten, mit der
Zweitstimme für die Landesliste einer Partei. Dabei kann der
Wähler die beiden Stimmen aufteilen ("Stimmensplitting"). Nach
dem Anteil an den Zweitstimmen wird ermittelt, wie viele Mandate
jeder Partei zustehen (1. Zuteilungsverfahren). Die gesamten
Mandate einer Partei sind auf deren Landeslisten zu verteilen,
wobei die in den Wahlkreisen errungenen Mandate abgezogen werden
(2. Zuteilungsverfahren). Hier ist gewählt, wer die meisten
Stimmen (Erststimmen) auf sich vereinigt hat (relative Mehrheit).
Die verbleibenden Mandate erhalten die Kandidaten entsprechend
ihrer Reihenfolge auf der Landesliste (3.
Zuteilungsverfahren).
Wie aus dieser Erläuterung hervorgeht,
handelt es sich beim Wahlsystem - entgegen einer offenbar
unausrottbaren Meinung - nicht um ein "gemischtes Wahlsystem",
sondern um ein Verhältniswahlrecht. Ein "gemischtes
Wahlsystem" ist es lediglich insoweit, als jeweils die Hälfte
der Abgeordneten über die Liste und direkt gewählt wird.
Maßgebend für die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag
ist die Zweitstimme. Das Verhältniswahlprinzip erfährt
nur durch die Fünf-Prozent-Klausel und mögliche
Überhangmandate eine Einschränkung.
Parteien, die weniger als fünf Prozent
der Stimmen oder nicht mindestens drei Direktmandate erreichen
(Alternativklausel), werden an der Mandatsvergabe nicht beteiligt.
Die Stimmen, die solche Parteien erhalten, fallen unter den Tisch,
kommen damit indirekt den Bundestagsparteien zugute. Die vom
Bundesverfassungsgericht für rechtens erklärte
Fünf-Prozent-Klausel - ausgenommen sind Parteien nationaler
Minderheiten wie der bei den schleswig-holsteinischen
Landtagswahlen kandidierende Südschleswigsche
Wählerverband - soll die Funktionsfähigkeit des
Parlaments sichern und eine Zersplitterung des Parteiensystems
verhindern. Für die PDS war diese Klausel von besonderer
Brisanz. 1990 galt eine gesonderte Sperrklausel für Ost und
West. Es genügte, entweder im Osten (hier erreichte die PDS
11,1 Prozent) oder im Westen des Landes (hier bekam sie nur 0,3
Prozent) die Hürde zu nehmen. 1994 gelangte die PDS nur
deshalb in den Bundestag, weil sie vier Direktmandate gewann und
damit die Fünf-Prozent-Marke umgehen konnte. 1998 schaffte sie
mit 5,1 Prozent den Sprung über die Hürde, nicht jedoch
2002 (4,0 Prozent). Die zwei gewonnenen Direktmandate durfte sie
aber behalten.
Überhangmandate können dann
entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate
erringt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil zustehen. Diese gehen
ihr also nicht verloren. Ausgleichsmandate für die anderen
Parteien sind nicht vorgesehen. Spielten Überhangmandate
früher kaum eine Rolle, so ist es seit der deutschen Einheit
anders.1990 erreichte die CDU sechs, 1994 zwölf, 2002 eines;
die SPD bekam 1994 vier, 1998 13 und 2002 vier. Diese
Überhangmandate erleichterten bei den letzten drei
Bundestagswahlen die Regierungsbildung.
Neuzuschnitt der Wahlkreise
Vor der Bundestagswahl 2002 wurde die Zahl
der Mandate von 656 auf 598 verringert und damit die Zahl der
Wahlkreise von 328 auf 299. Ein genereller Neuzuschnitt der
Wahlkreise war die Folge. Vor dieser Wahl wurden 38 Wahlkreise neu
abgegrenzt. Bayern erhielt einen Wahlkreis mehr, Thüringen
einen weniger. Nach dem Wahlgesetz soll die Bevölkerungszahl
eines Wahlkreises nicht um mehr als 15 Prozent vom Durchschnitt
abweichen; liegt die Differenz bei mehr als 25 Prozent, ist ein
Neuzuschnitt zwingend. Andere Reformen sind jetzt nicht
angefallen.
Die kleinen Parteien hatten es angesichts der
verkürzten Fristen diesmal besonders schwer, die
Unterschriften für die Landeslisten zusammen zu bekommen
(mindestens jeden 1.000. Wahlberechtigten, höchstens 2.000
Wahlberechtigte). Ließ der Bundeswahlausschuss nach
Prüfung der Satzung 34 Parteien zu, scheiterte bei den
Landeswahlausschüssen eine Reihe von Parteien (wegen der
fehlenden Unterschriften). So wurden in Rheinland-Pfalz nur 10 von
16 Listen zugelassen, in Hessen 12 von 19. Die Linkspartei, auf
deren Listen zahlreiche Mitglieder der "Wahlalternative Arbeit und
soziale Gerechtigkeit" kandidieren, kann in allen
Bundesländern antreten.
Wer die Pro- und Kontra-Argumente bei der
Wahl-systemfrage in der Bundesrepublik abwägt, macht es sich
zu einfach, die Forderung nach einem mehrheitsbildenden Wahlrecht
von vornherein als völlig verfehlt anzusehen. Schließlich
würde auf diese Weise das ohnehin überdehnte
konkordanzdemokratische Element (faktische Allparteienregierungen,
nicht jedoch im Bundesrat; Politikverflechtung) eingeschränkt
und die vorherrschende Tendenz zur Verwischung der
Verantwortlichkeiten zumindest abgeschwächt. Die jeweilige
Hauptregierungspartei könnte ihre Haltung nicht mehr mit der
tatsächlichen oder auch nur vorgeschobenen Rücksichtnahme
auf den kleinen Koalitionspartner begründen.
Doch sprechen zwei Argumente entscheidend
gegen eine Änderung des Wahlsystems: Erstens geriete eine
Reformbestrebung in den Ruch der Manipulation zuungunsten der
kleinen Parteien, zumal das bestehende Wahlsystem bisher ohne
gravierende Mängel ist. Gerade die lange Existenz des
Wahlsystems hat ein Maß an Legitimität geschaffen, das
nicht ohne Not zerstört werden sollte. Zweitens konnte das
Verhältniswahlsystem in mancher Hinsicht die gemeinhin dem
Mehrheitswahlsystem zugeschriebenen Wirkungen erfüllen: Es
besteht mehr oder weniger ein bipolares Parteiensystem; der
Wähler weiß vor der Wahl Bescheid, wer mit wem eine
Koalition eingeht, entscheidet somit faktisch über die
Regierung; eine Ideologisierung oder gar Radikalisierung der
Parteien ist ebenso weitgehend ausgeblieben wie Koalitionsquerelen
nur selten eine Rolle spielen. Man kommt nicht um folgende
Paradoxie herum: Die Verhältniswahl hat sich bewährt,
weil viele der Forderungen seitens der Befürworter der
Mehrheitswahl trotz des geltenden Wahlsystems in Erfüllung
gegangen sind.
Während das Wahlsystem nicht revidiert
wurde, kam es zu einzelnen Änderungen, die nicht unmittelbar
die Umsetzung von Stimmen in Mandate betrafen. Zu den wichtigsten
gehören die Einführung des Zweistimmensystems im Jahre
1953, die Etablierung der Briefwahl im Jahre 1956, die Senkung des
Wahlalters im Jahre 1970, die Ersetzung des d'Hondtschen
Höchstzahlensystems durch das Verfahren Hare/Niemeyer (1985)
sowie die Gewährung des Wahlrechts für im Ausland lebende
Deutsche (1985 für einen Teil, seit 1998 für
alle).
Wahlrecht von Geburt an?
Mancher Reformvorschlag ist nicht in die Tat
umgesetzt worden. Dazu gehört etwa die Einführung des
Ausländerwahlrechtes. Eine Reform, die in den meisten
Bundesländern gilt, sollte im Sinne einer größeren
Kontinuität der Politik im Bund nicht verschoben werden: die
Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre.
Besonderes Aufsehen fand in der letzten Wahlperiode eine
überfraktionelle Bundestagsinitiative "Mehr Demokratie wagen
durch ein Wahlrecht von Geburt an". Sie beklagt die demografische
Entwicklung, will eine kinderfreundlichere Gesellschaft und eine
verbesserte Familienpolitik. Die Abgeordneten, die den Antrag
eingebracht haben, darunter sehr prominente (unter anderem Rainer
Eppelmann, Cornelia Pieper, Werner Schulz, Hermann Otto Solms,
Wolfgang Thierse, Antje Vollmer), wollen den Eltern
treuhänderisch Stimmen für deren Kinder geben, soweit sie
nicht das 18. Lebensjahr überschritten haben. Kritiker machen
geltend, eine Einschränkung des Wahlrechtsgrundsatzes "gleich"
("one man, one vote") verbiete sich. Der demokratische
Verfassungsstaat basiere auf Zählwertgleichheit. Ein
"Familienwahlrecht" hingegen entspreche faktisch einem
Pluralwahlrecht. Außerdem müsse die Wahl
höchstpersönlich vonstatten gehen, eine Delegation sei
untersagt.
Am Wahltag fiebern die Wahl- und
Parteibürger dem Ausgang entgegen. Vielleicht geben
wahlrechtliche Eigenheiten wie die Regelung zur Sperrklausel oder
zu den Überhangmandaten den Ausschlag. Der Teufel steckt im
Wahlrechtsdetail. Der Ausgang der letzten drei Bundestagswahlen war
knapp. Bei den Neuwahlen 1972 und 1983 profitierte jeweils die
Richtung, die sie angestrebt hatte: 1972 die SPD, 1983 die Union.
Diesmal auch?
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