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Sandra Schmid
Wahlkampf im Klassenzimmer
Mit der Juniorwahl simulieren rund 50.000
Schüler in Deutschland die Bundestagswahl
Sie haben die Wahl: Josi, Inana und Jakob werden
zum ersten Mal am 18. September mit der Wahlbenachrichtigung und
ihrem Personalausweis in der Hand ein Wahllokal betreten, um ihre
Stimme für die Wahl des Deutschen Bundestags abzugeben. Sie
sind drei von bundesweit 2,6 Millionen Erstwählern. Doch das
ist nicht die einzige Wahl, bei der die drei nach ihrer Stimme
gefragt werden. Josi, Inana und Jakob werden genauso wie ihre
Mitschüler an der Berliner John-Lennon-Oberschule und wie
50.000 Schüler an 180 Schulen in Deutschland auch an der
Juniorwahl teilnehmen. Die Juniorwahl simuliert an Schulen eine
Wahlsituation wie bei einer Bundestags- oder Landtagswahl.
Allerdings gibt es hier einen Unterschied: Bei der Juniorwahl
dürfen alle Schüler wählen, nicht nur die, die schon
18 Jahre alt sind.
Das Votum der Jugendlichen hat zwar auf das
Wahlergebnis im Bundestag keine Auswirkung, trotzdem läuft die
Wahl bis ins Detail realitätsgetreu ab: Die Schüler
bekommen eine Wahlbenachrichtigung, bringen zur Stimmabgabe ihren
Personalausweis mit und haben eine Erst- und eine Zweitstimme
für die Wahl der Wahlkreisabgeordneten und der Partei. Nur
eine Kleinigkeit ist anders als bei einer normalen Wahl: Die
Schüler kreuzen die Favoriten nicht auf einem Stimmzettel an,
sondern geben ihr Votum am Computer ab. Per Mausklick wählen
sie, welcher Kandidat und welche Partei in den virtuellen Bundestag
einziehen soll.
180 Schulen in Deutschland nehmen an dem
Projekt Juniorwahl teil. Schon bei der vergangenen Bundestagswahl
kam die Juniorwahl, ebenso wie bei Landtagswahlen und Europawahlen
seit 2001, zum Einsatz. Tausende von Schülern in Deutschland
konnten so hautnah erfahren, was es eigentlich heißt,
wählen zu gehen. Doch was so spielerisch aussieht, ist weit
mehr als nur Spaß: Es geht schließlich nicht nur um den
Wahlakt selbst, der geübt werden soll, sondern auch um so
abstrakte Dinge wie Demokratieverständnis und Meinungsbildung.
Die Jugendlichen sollen erleben, wie Demokratie funktioniert.
Eingebettet ist die Juniorwahl in den normalen Politikunterricht.
Die Jugendlichen lernen zwar wie sonst auch die politischen
Institutionen und Parteien kennen und beschäftigen sich mit
dem Wahlsystem, allerdings mit dem feinen Unterschied, dass sie
dies nicht mehr nur anhand von Schaubildern und Pfeildiagrammen
tun, sondern selbst zu Handelnden werden: Die Schüler
erstellen etwa für ihre Schule ein Wählerverzeichnis, sie
bestimmen den Wahlvorstand und die Wahlhelfer, die die Abläufe
am Wahltag beaufsichtigen.
Ausgedacht haben sich das Projekt die
Mitglieder des Berliner Kunstvereins Kumulus. Bereits vor einigen
Jahren hatten sie die Idee dazu: 1998 berichtete der
Politikwissenschaftler Jürgen Falter in der Talksendung
"Sabine Christiansen" über das amerikanische Projekt
"KidsVoting", das Kindern und Jugendlichen das Wahlsystem anhand
einer Simulation verdeutlicht. "Das", so dachten sich die
Mitglieder von Kumulus, "müsste es doch auch in Deutschland
geben." Schon länger hatten sie sich, wie etwa der damalige
Student und heutige Wirtschaftsingenieur Gerald Wolff, selbst
dafür engagiert, die Kluft zwischen den angeblich so
politikmüden Jugendlichen und der Politik zu
überbrücken: "Die Ergebnisse der Shell-Studien, die den
Jugendlichen immer weniger Interesse für politische Fragen
bescheinigten, hat uns geschockt. Wir wollten etwas gegen die
Zuschauerdemokratie in unserem Land tun," sagt Gerald Wolff. So
begann er 1999 zusammen mit seinen Mitstreitern, Fragen von
Jugendlichen an die Politik zu sammeln und überreichte diese
später als gebündelten Fragenkatalog an
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Seit 2001 organisiert
der Verein zudem so genannte "Talkstunden", in denen Jugendliche
mit Politikern über Themen wie "Macht und Moral" oder
"Politikverdrossenheit" diskutieren. Mit Veranstaltungen wie diesen
liefen sich die Kumulus-Aktivisten warm für ihr bislang
umfangreichstes Projekt: die Juniorwahl.
Anders als das amerikanische
Vorläufermodell "KidsVoting" wurde die Juniorwahl von Anfang
an in den Schulunterricht integriert und von Lehrern didaktisch
begleitet. Eines der zentralen Prinzipien der Juniorwahl ist
jedoch, die Organisation der Wahl in die Hände der
Schüler zu legen: Und so sind Josi, Inana und Jakob in den
kommenden Wochen bis zur Wahl voll beschäftigt: Die
Wahlververzeichnisse sind zwar schon erstellt, und auch die
Wahlhelfer hat die 13. Klasse schon bestimmt. Doch auch sonst gibt
es noch einiges zu tun, bevor der Raum neben dem Lehrerzimmer in
der John-Lennon-Oberschule für eine Woche zum Wahllokal wird.
Die Kabinen müssen aufgebaut und die Computer mit der
richtigen Software ausgerüstet werden. Jede Schule, die an der
Juniorwahl teilnehmen will, bekommt dafür das entsprechende
Programm auf CD-ROM. Diese Software ermöglicht die Stimmabgabe
wie beim Online-Banking.
Zurzeit unterziehen Josi, Inana, Jakob und
ihre Mitschüler die Parteien einer genaueren Prüfung. Im
Fach Politische Weltkunde unter der Leitung ihres Lehrers Theodor
Bröcker nehmen sie sich aber nicht nur deren Wahlprogramme
vor. Jeden Freitag laden sie auch Politiker in die Schule ein,
damit diese sich ihren Fragen stellen. Gerade zur Bildungs- und
Wirtschaftspolitik haben die Schüler viele Fragen, die sie von
den Vertretern der Parteien beantwortet haben wollen. Petra Pau von
der ehemaligen PDS, jetzt Linkspartei, war schon da. Doch richtig
zufrieden wirkt die 13. Klasse der John-Lennon-Oberschule mit der
Diskussion nicht: Sehr viel anders als in einer Talkshow im
Fernsehen sei die Diskussionsrunde in der Schule nicht gewesen,
finden die Schüler. Petra Pau habe sich verhalten, "wie alle
anderen Politiker" auch. Aber schießlich kommen noch andere
Politiker, die Spannung steigt und der Wahlkampf hat die Schule
erreicht. Doch gerade den Wahlkampf finden Josi, Inana, Jakob und
die anderen Erstwähler überhaupt nicht gut. "Alles nur
absurdes Theater", urteilen sie und fragen: Warum beschäftigen
sich Politiker nur damit, den Gegner schlecht zu machen? Warum geht
es nicht mehr um konstruktive Lösungsvorschläge für
unsere Probleme? Die Schüler haben ein feines Gespür
für Wahlkampftaktik, registrieren sehr wohl die
Machtkämpfchen zwischen der Kanzlerkandidatin Angela Merkel
und dem CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber und sie durchschauen, dass
Bundeskanzler Gerhard Schröder sein siegessicheres
Lächeln wohlkalkuliert zur Schau trägt. Kaum einer in der
Klasse scheint deshalb heute schon zu wissen, was er am 18.
September wählen wird - bei der Bundestagswahl und bei der
Juniorwahl. "Haben wir wirklich eine Alternative?", fragt Isabel.
Und ihre Banknachbarin sagt: "Vielleicht sollte man das geringste
Übel wählen." Dabei ist es nicht so, dass die Klasse
nicht wählen will. Die Juniorwahl finden sie alle gut und
wichtig.
Wie sie und die anderen bei der Juniorwahl
abgestimmt haben, wird erst am 18. September um 18 Uhr bekannt
gegeben. Dann werden Ergebnisse der deutschlandweiten Juniorwahl im
Internet unter "www.juniorwahl.de" veröffentlicht.
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