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Christoph Seils
Kein Bock auf lange Sitzungen, kaum Vertrauen in
Politiker
Viele Jugendliche wenden sich von der Politik
ab, sind aber trotzdem sozial engagiert
Wahlkampf, das heißt für Norman Friske
Flugblätter verteilen, Veranstaltungen organisieren, Menschen
überzeugen. Seit Wochen schon ist er im sachsen-anhaltinischen
Köthen unterwegs. Er wirbt für Angela Merkel, diskutiert
über den Aufbau Ost und erklärt Jugendlichen, warum die
CDU, sollte sie die Bundestagswahlen am 18. September gewinnen, die
Mehrwertsteuer erhöhen will. "Das ist nicht immer einfach",
sagt der 21-jährige Student der Betriebswirtschaft. Aber er
freut sich schon auf eine CDU-geführte Bundesregierung. "So
eine Chance kommt so schnell nicht wieder."
Damit Gerhard Schröder Kanzler bleibt, ist Tobias Schneider
kürzlich in Berlin in die SPD eingetreten, trotz
Stimmungstief. Dabei ist es nicht so, dass der 22-jährige
Geschichtsstudent allem, was die rot-grüne Bundesregierung in
den letzten sieben Jahren gemacht hat, kritiklos gegenüber
stünde, aber für ihn ist die Mitgliedschaft ein
grundsätzliches Bekenntnis. Er sei lange Sympathisant der SPD
gewesen, vor allem wegen ihrer Geschichte.
In ihrer Generation sind Norman Friske und Tobias Schneider
Ausnahmen. Immer weniger Jugendliche interessieren sich für
Politik, immer weniger Jugendliche schließen sich Parteien an.
"Das politisches Engagement in Parteien ist out", sagt der
Politologe Mathias Albert von der Universität Bielefeld. "Das
Interesse von Jugendlichen an Politik geht spürbar
zurück." Der Politik-Professor ist Co-Autor der 14.
Shell-Jugendstudie. Darin haben die Jugendforscher im Jahr 2002
ermittelt, dass das Politikinteresse von Jugendlichen seit Anfang
der 90er-Jahre kontinuierlich gesunken ist. Bezeichneten sich 1991
noch 57 Prozent der Jugendlichen im Alter von zwölf bis 25
Jahren als politisch interessiert, waren es im Jahr 2002 nur noch
34 Prozent. Bei der Beurteilung politischer und gesellschaftlicher
Institutionen schnitten die Parteien im Vergleich mit den
Gerichten, der Bundeswehr, den Kirchen oder den Gewerkschaften
äußerst schlecht ab. Bei Fragen nach dem Vertrauen lagen
sie auf dem letzten Platz.
"Die Trends der letzten Shell-Jugendstudie haben sich
fortgesetzt oder gar verstärkt", sagt Mathias Albert heute.
"Mit Politik assoziieren die Jugendlichen Parteipolitik."
Politikverdrossenheit sei Parteienverdrossenheit, führt Albert
aus. Politiker stecken bei Jugendlichen in einer tiefen
Vertauenskrise. Nun ist es nicht so, dass Jugendliche mit ihrer
Politikerschelte alleine stehen, aber "Jugendliche sind gnadenloser
als Ältere", sagt Ulrich Schneekloth von der Infratest
Sozialforschung in Münchner. Politikerverdrossenheit sei ein
gesamtgesellschaftlicher Trend, aber er sei bei Jugendlichen
besonders ausgeprägt.
Das zeigt sich auch beim politischen Abend in der Aula der
Herrmann-Ehlers Oberschule in Berlin-Steglitz, einem
alteingesessenen Gymnasium im bürgerlichen Süden der
Hauptstadt. Anderthalb Stunden diskutieren die vier örtlichen
Direktkandidaten vor 400 Schülern, solche Podiumsdiskussionen
vor Bundestagswahlen haben dort schon Tradition. Aber in diesem
Jahr bringen die Schüler den Politikern lediglich geduldiges
Desinteresses entgegen. Sie hören artig zu und spenden
höflich Beifall. Erst traut sich niemand, dann ringen sich ein
paar Schüler zu Fragen durch, zur Mehrwertsteuer, zu
Studiengebühren oder zu Arbeitsplätzen. Kaum ist die
Podiumsdiskussion beendet, drängen die Schüler aus dem
Saal. Zwar hat jede Partei unter ihnen Anhänger, es gibt
Schüler die Gerhard, Angela, Guido, Joschka oder Oskar
wählen wollen. Vor der Aula verteilen sie eifrig
Flugblätter. Doch viele Mitschüler winken ab. "Die machen
doch was sie wollen", sagt die 17-jährige Sonja. "Die
können mich mal", der 18-jährige Hauke.
"Die Jugendlichen in Deutschland trauen der Politik keine
Kompetenz zu", sagt Jugendforscher Ulrich Schneekloth und er nennt
dafür vor allem zwei Gründe: Erstens erreiche die
Politik, so wie sie sich öffentlich darstelle, die
Jugendlichen nicht mehr. Zweitens hätten die Parteien einen
Nachholbedarf in Sachen Beteiligungsformen. "Politik funktioniert
in festgefahrenen parteipolitischen Strukturen", sagt Schneekloth,
doch viele Jugendlichen hätten keinen Bock auf die monatliche
Sitzung des Ortsvereins oder auf Plakate kleben. "Praktisch jedoch
unternehmen die Parteien wenig, um Jugendliche einzubinden, um lose
Formen des Mitmachens zu entwickeln, um sie mit niedrigschwelligen
Angeboten für die Politik zu gewinnen." Ähnlich sieht das
Mathias Albert. Parteien versuchten Jugendliche sofort in die
Jugendorganisation oder den Ortsverein zu integrieren. "Das
schreckt ab."
Politische Seismografen
Für Sozialforscher sind Jugendliche "politische
Seismografen", die Rückschlüsse auf den Zustand und die
Entwicklung der gesamten Gesellschaft erlauben. Für sie ist
die Stimmung unter Jugendlichen ein Alarmsignal, auch wenn die
Politikerverdrossenheit bislang nicht mit Demokratieverdrossenheit
einhergeht. 74 Prozent der Westdeutschen und 59 Prozent der
Ostdeutschen halten die Demokratie laut der letzten
Shell-Jugendstudie für eine gute Staatsform. Doch es gibt
Warnzeichen, die zeigen, auch die Zustimmung zur Demokratie muss
nicht von Dauer sein. Vor allem in Ostdeutschland, wo die
Wiedervereinigung und ihre Folgen nachwirken. Für 17 Prozent
der ostdeutschen Jugendlichen ist Demokratie eine "nicht so gute
Staatsform". Dass sich dies auch bei Wahlen niederschlagen kann,
zeigten im September 2004 die Landtagswahlen in Sachsen als 21
Prozent der Erstwähler die NPD wählten.
Die Jugend ist im Umbruch: Zwei Generationen lang galten
Jugendliche als links. Politisches Engagement war
identitätsbildend. 1968 rebellierten Studenten gegen die
große Koalition, anschließend verhalfen sie dem ersten
sozialdemokratischen Nachkriegskanzler Willy Brandt ins Kanzleramt,
in den 80er-Jahren demonstrierten viele Jugendliche gegen Atomkraft
und für den Frieden. Die Grünen wurden
überproportional von Jungwählern unterstützt. Noch
2002 stimmten 51 der Erstwähler für Rot-Grün. Das
ist inzwischen anders.
Die Jugendlichen wenden sich mehrheitlich den Werten zu, die die
68er bekämpft haben: Treue, Fleiß und Familie. In einer
Forsa-Umfrage für das Magazin Stern bekennen sie sich
mehrheitlich zur Ehe (87 Prozent), zu Kindern (91 Prozent) und zur
großen Liebe (80 Prozent). In Zeiten neuer gesellschaftlicher
Unübersichtlichkeit und ökonomischer Krise suchen die
Jugendlichen Halt. Ein Wertewandel, der sich vermutlich auch bei
den Bundestagswahlen am 18. September niederschlagen wird. Bis zu
55 Prozent der Erstwähler könnte aktuellen Umfragen zu
Folge b ei den Bundestagswahlen ihr Kreuz bei den beiden
bürgerlichen Parteien CDU und FDP machen.
Trotzdem warnt der Jugendforscher Mathias Albert davor, den
Wertewandel mit einem Wiedererstarken eines politischen
Konservativismus gleichzusetzen. Die heutige Jugend sei in dem
Sinne konservativ, dass traditionelle Werte wieder auf dem
Vormarsch seien. Dies entspreche aber nicht einem konservativen
politischen Weltbild. "Ideologie spielt bei den Jugendlichen keine
Rolle mehr", sagt Mathias Albert. "Die Jugendlichen denken immer
weniger entlang etablierter Links-Rechts Schemata." Für Ulrich
Schneekluth ist der Wertewandel bei der Jugend trotzdem eine
Antwort auf die 68er, eine Antwort "auf die überbordende
Individualisierung der Elterngeneration". Zudem habe die heutige
Jugend nicht deren Sendungsbewusstsein.
Heike Peters kann sich vor allem "nicht entscheiden". Sie will
am 18. September in jedem Fall wählen gehen, nur was sie
wählen wird, "das weiß ich noch nicht", sagt sie. Nach
welchen Kriterien sie entscheiden will, das bleibt unklar. Die
einzige Antwort ist ein Achselzucken. Dabei hätte die
20-jährige Auszubildende an diesem Samstag in Lüneburg
jede Gelegenheit sich zu informieren. Wie an einer Perlenschnur
aufgereiht stehen die Infostände der fünf
Bundestagsparteien von Linkspartei bis CDU in der
Fußgängerzone. Bundestagsabgeordnete und Kandidaten
stehen Rede und Antwort, es gibt Programme und Plakate,
Kugelschreiber und Luftballons. Heike Peters geht an allen achtlos
vorbei. "Mit denen will ich nichts zu tun haben", sagt sie.
Dabei ist Heike Peters durchaus engagiert. Sie singt im
Kirchenchor und betreut in ihrer Freizeit gelegentlich eine
Kindergruppe in ihrer Gemeinde. Das auch dies etwas mit Politik zu
tun haben könnte, weist sie weit von sich. Für den
Sozialforscher Ulrich Schneekloth ist dies typisch. Viele
Jugendliche erklärten, dass sie kein Interesse an Politik
hätten, gleichzeitig seien sie gesellschaftlich aktiv, in der
Schule, im Jugendklub oder der Freiwilligen Feuerwehr. "Der Trend
geht in die Richtung, sich zu engagieren", sagt Ulrich Schneekloth,
auch wenn dieses Engagement nicht im engeren Sinne politisch
motiviert und begründet sei. Trotzdem: "Solches Engagement ist
gesellschaftspolitisch relevant", betont Ulrich Schneekloth. "Es
fördert soziale Bindungen und liefert den sozialen Kitt, den
die Bürgergesellschaft braucht."
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