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Alexander Weinlein
Der Souverän am Stellhebel der Macht
Die Entscheidung: Am 18. September wählen
die Deutschen einen neuen Bundestag
Da sind sie wieder. Ein Jahr früher als
erwartet. Sie lächeln von Plakatwänden,
Litfaßsäulen und den Masten von Straßenlaternen. Sie
werben in Fußgängerzonen, auf Marktplätzen und in
Hallen, Fernseh- und Rundfunkspots. Trotz unterschiedlicher
Standpunkte und Programme vereint sie ein gemeinsames Ziel: Sie
alle wollen einen der begehrten 598 Sitze im 16. Deutschen
Bundestag erringen. Sie - das sind die 3.648 Kandidaten, die um die
Stimmen der rund 61,9 Millionen Wahlberechtigten kämpfen. Am
18. September ist es soweit. Dann sitzt der Souverän, das
Volk, für zehn Stunden - so lange haben die Wahllokale
geöffnet - am Stellhebel der Macht und entscheidet über
die politische Zukunft Deutschlands.
In dieser Wochen werden sie noch einmal alle
zusammenkommen - die 603 Abgeordneten des 15. Deutschen
Bundestages. Am Mittwoch werden sie sich noch einmal im Plenarsaal
des Reichstagsgebäudes zu einer Bundestagssitzung versammeln.
Und es wird zu einem letzten parlamentarischen Schlagabtausch
zwischen Regierung und Opposition, zwischen Bundeskanzler Gerhard
Schröder und seiner Herausforderin Angela Merkel kommen.
Schröder wird vor dem Parlament eine letzte
Regierungserklärung abgeben, die eine Bilanz seiner
siebenjährigen Amtszeit darstellen wird, und CDU-Chefin Angela
Merkel wird sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen, dem Kanzler
Paroli zu bieten.
Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass der
Bundestag in seiner jetzigen Zusammensetzung vor oder auch nach der
Wahl ein weiteres Mal zusammentreten wird - zum Beispiel, um das am
13. Oktober auslaufende Mandat der Bundeswehr für ihren
Afghanistan-Einsatz zu verlängern -, ansonsten wird der
parlamentarische Betrieb jedoch ruhen. Denn der Bundestag bleibt
trotz seiner Auflösung durch Bundespräsident Horst
Köhler am 21. Juli solange im Amt, bis sich der neue
konstituiert hat. Dies wird spätens - so sieht es das
Grundgesetz vor - am 18. Oktober geschehen.
Trotz der angespannten Wahlkampfstimmung wird
wohl auch ein wenig Wehmut bei den Parlamentariern herrschen, wenn
sie sich zum letzten Mal im Reichstag versammeln. Für viele
werden es die letzten Stunden als Abgeordnete sein - sei es, weil
sie nicht mehr für den neuen Bundestag kandidieren, oder weil
sie fürchten müssen, dass sie ihren Wahlkreis nicht mehr
direkt gewinnen können und auch nicht über einen der
sicheren, vorderen Listenplätze ihrer Partei verfügen.
Fest steht, dass 90 der derzeitigen Bundestagsabgeordneten nicht
wieder zur Wahl antreten.
Während die Volksvertreter auf ihren
Sitzen im Plenarsaal über die vergangenen drei Jahre der nun
endenen Legislaturperiode sinnieren, während sie auf
Straßen und in Hallen Wahlkampf machen oder sich mit ihren
politischen Kontrahenten in Fernseh-Talkshows die Köpfe
heiß reden, entscheiden schon die ersten Bürgerinnen und
Bürger auf dem Wahlzettel über ihr politisches Schicksal
- denn seit Anfang September läuft die Briefwahl. Alle
Wahlberechtigten, die am 18. September den Gang an die Wahlurne
nicht antreten können, dürfen ihre Stimme bereits jetzt
per Post abgeben.
Der Anteil der Briefwähler ist in
Deutschland kontinuierlich angewachsen. Waren es bei den ersten
gesamtdeutschen Wahlen im Jahr 1990 noch rund 4,4 Millionen, stieg
ihre Zahl bis zur Bundestagswahl 2002 auf rund 8,8 Millionen - das
entsprach einem Anteil von 18 Prozent der Wähler.
Wer mit wem?
Wahlkampf - das ist auch die Zeit der
Meinungsforscher und Analysten. Woche für Woche hören sie
in das Wahlvolk, versuchen die Stimmungen und Trends zu messen, um
sie dann möglichst exakt in Prozenten für die Parteien
wiederzugeben. "Welche Partei würden Sie wählen, wenn am
kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?" Gespannt blicken
Bürger und Politiker auf die Bildschirme, wenn die bunten
Balkendiagramme die Ergebnisse der wöchentlichen
Sonntagsfragen zeigen. Dann beginnt das Rechnen. Reicht es noch
einmal für die Regierungskoalition aus SPD und Grünen?
Schaffen CDU, CSU und FDP den von ihnen angestrebten Machtwechsel
an der Spree? Oder läuft es auf eine Große Koalition
zwischen Union und Sozialdemokraten hinaus?
Die Frage "Wer mit wem?" gehört eben
nicht nur im zwischenmenschlichen Bereich zu den spannendsten. Die
Frage nach den denkbaren Koalitionskombinationen bei allen
möglichen Wahlergebnissen wird in Wahlkampfzeiten besonders
gerne gestellt. Mal geben sich die Parteien bedeckt, mal werden
klare Koalitionsaussagen bewusst formuliert. CDU, CSU und FDP haben
in der vergangenen Woche noch einmal - medienwirksam - ihre
Koalitionspläne bekräftigt.
Ausdrücklich festgelegt haben sich SPD
und Grüne diesmal nicht. Beide Seiten betonen zwar, dass sie
die Regierungskoalition fortsetzen wollen, allerdings hat es nach
der von Bundeskanzler Gerhard Schröder bewusst
herbeigeführten Niederlage über seine Vertrauensfrage am
1. Juli im Bundestag hörbar geknirscht im Gebälk der
Koalition. Beide Parteien setzen viel stärker auf
Eigenständigkeit als dies noch vor drei jahren der Fall
gewesen war. Nur eines hat Gerhard Schröder kategorisch
ausgeschlossen: Eine Koalition mit der Linkspartei.PDS.
Entscheidung im Endspurt
Knapp zwei Wochen haben die politischen
Protagonisten noch Zeit, um ihre Überzeugungen und Programme
an die Frau und den Mann zu bringen. Das ist einerseits nicht mehr
viel, anderseits weiß man aus den Erfahrungen der letzten
Bundestagswahl, dass die Entscheidung in der sprichwörtlich
letzten Minute fallen kann. Glaubt man den Angaben der
Meinungsforschungsinstitute, so ist derzeit noch jeder fünfte
Wahlberechtigte unentschlossen, welche Partei er am Stichtag
wählen wird.
Eng verbunden mit diesem Phänomen ist
die Angst, dass die Wahlbeteiligung erneut so schlecht ausfallen
könnte wie bei der Bundestagswahl 2002 stellte der Anteil der
Nichtwähler immerhin die drittstärkste "politische Kraft"
im Land (Wahlbeteiligung: 79,1 Prozent). So sind die
Wahlkämpfer bemüht, landauf, landab zu betonen, um was es
geht am 18. September: "Richtungswahl" und "Entscheidungswahl" sind
die gängigen Vokabeln - Angela Merkel sieht in der Wahl gar
eine "Weichenstellung" für Deutschland wie im Jahr
1949.
Nicht nur die politischen Protagonisten
rühren die Werbetrommel, sondern auch staatliche Institutionen
und diverse unabhängige Initiativen - streng
überparteilich. Allen voran der Deutsche Bundestag: Er
ließ drei halbminütige Film-Spots mit prominenten
Sportlern produzieren, die im Fernsehen, Großkinos und
Fußballstadien ausgestrahlt werden. Unter dem Motto "Egal -
ich geh zur Wahl" sollen HSV-Trainer Thomas Doll und sein Spieler
Benjamin Lauth, der Rennfahrer Heinz-Harald Frentzen und die
Beach-Volleyballerinnen Stephi Pohl und Okka Rau die 18- bis
35-Jährigen - vor allem jene, die politisch desinteressiert
sind - zum Wählen motivieren. Die Bundeszentrale für
politische Bildung schickt gleich 90 Promis - vom Kabarettisten
Ingo Appelt über Alt-Rocker Udo Lindenberg bis zu
"Tagesthemen"-Moderator Ulrich Wickert - ins Rennen, die in
Radio-Spots gegen das "Blaumachen in der Demokratie" (Gunter
Gabriel) mobilisieren.
Am 18. September um 18 Uhr werden die
Wahllokale schließen. Dann beginnt das Auszählen der
Stimmen. Auch wenn um Punkt 18 Uhr die Fernsehanstalten wieder ihre
Prognosen - erstellt anhand von Wählerbefragungen direkt nach
der Stimmabgabe - verkünden werden, kann es ein langer Abend
werden - das hat die Bundestagswahl 2002 gezeigt: Der Wahlsieger
wird vielleicht erst spät in der Nacht oder in den frühen
Morgenstunden feststehen.
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