Reinhard Lassek
Der Mensch als emotionales Tier
Ein Kolloquium der "Leopoldina"
Die "Leopoldina", die Deutsche Akademie der
Naturforscher in Halle an der Saale, ist eine der
traditionsreichsten akademischen Einrichtungen in Deutschland, ja
weltweit. Ende des 17. Jahrhunderts war sie von Kaiser Leopold I.
als "Reichsakademie" für Naturforscher und Ärzte
bestätigt worden. Gründungsort war Schweinfurt; seit 1878
ist Halle Heimatort der "Leopoldina". Kaum ein großer
deutscher Gelehrter, der nicht Mitglied der "Leopoldina" war. Dank
des Geschicks und der internationalen Reputation ihrer
Präsidenten hat sich die Akademie auch in den Jahren der
NS-Diktatur und später der SED-Herrschaft ihre
Unabhängigkeit in größerem Maße bewahren
können.
In den Jahren der deutschen Teilung war die
Akademie wohl der zentrale Ort, an dem zwischen Ost und West
neueste wissenschaftliche Erkenntnisse unbehindert ausgetauscht und
diskutiert werden konnten. Älteren Teilnehmern ist bis heute
die berühmt gewordene Sitzung aus den 70er-Jahren in
Erinnerung, bei der die in der DDR bis dahin verfemte Kybernetik
Eingang in das dortige wissenschaftliche Denken fand.
Ein wichtiges Instrument waren dabei die
"Gaterslebener Begegnungen", sehr fachbezogene Kolloquien, auf
denen in beispielhaft interdisziplinärer Weise
Naturwissenschaften mit gesellschaftlichen Problemen
zusammengeführt wurden. In den vergangenen Jahren standen
immer wieder Fragestellungen, die sich aus der Anwendung der
modernen Biowissenschaften ergeben, im Zentrum dieser Begegnungen.
Doch erst im Jahre 2003 ging es grundsätzlich um unser Denken
und Handeln - unser Bewahren und Verändern - im Kontext der
biologischen und kulturellen Evolution. Insofern fasst der
vorliegende Band alle früheren Tagungen zusammen.
In ihrer Einführung verdeutlicht Anna M.
Wobus, mit welchem Anspruch der Dialog seitens der
Naturwissenschaftler, insbesondere der Biologen, geführt wird:
Wir fühlen uns, so die Genetikerin, "beidem verpflichtet, der
Bewahrung der Schöpfung - der in der Evolution entstandenen
biologischen Vielfalt -, aber auch dem Anspruch, dieses Potenzial
verantwortungsvoll zum Wohle des Menschen einzusetzen und zu
gestalten".
"Verantwortung" ist denn auch der zentrale
Begriff, der die Begegnung von Vertretern unterschiedlichster
Disziplinen verbindet. Doch in den Diskussionen wird immer wieder
auch die übliche Lagerbildung deutlich: Hier der sich immer
noch beschleunigende Fortschritt in den Naturwissenschaften, der
offensive bis aggressive Züge trägt und stets zum Handeln
drängt; dort die eher unfreiwillig defensiven
Geisteswissenschaften, zumeist so genannte Bedenkenträger, die
sich einer Kultur der Reflexion verpflichtet
fühlen.
Doch der Schein trügt: Jene
Glaubwürdigkeitskrise, die so viele Bereiche der Gesellschaft
erfasst hat, bedrängt längst auch die
Naturwissenschaften. Denn das Misstrauen wächst, wenn
Forschungsergebnisse zur Anwendung kommen, noch bevor weite Teile
der Öffentlichkeit überhaupt deren Inhalt und Tragweite
begriffen haben. Zudem reift die Erkenntnis, dass Verheißungen
gelegentlich ins Unheil umschlagen können.
Im Kapitel "Ethische Dimensionen" warnt daher
der evangelische Theologe Klaus Tanner - ehemals Mitglied der
Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" des
Deutschen Bundestages - zu Recht vor der weiterhin anwachsenden
Asymmetrie zwischen unserem technischen Fortschritt und unseren
nachhinkenden moralischen Fähigkeiten. Diesem
"äußeren" Machtzuwachs durch Technik kann nur durch
verstärkte "kulturelle Anstrengungen" begegnet werden. Vor
allem durch Bildung - denn nur diese befähigt den Menschen,
mit seinen neuen Möglichkeiten verantwortungsvoll
umzugehen.
Der Humangenetiker Peter Propping kann im
Kapitel "Von der biologischen und kulturellen Evolution" vorerst
die Sorge zerstreuen, dass die Biotechnologie die Evolution des
Menschen entscheidend beeinflussen könnte. Jenes Szenarium vom
"Designer-Kind" lässt sich wohl niemals in die Praxis
umsetzen.
Der Fortschritt gefährdet also weniger
die biologische Evolution des Menschen, sondern vielmehr unser
Menschenbild. Und angesichts der Tatsache, dass die
Biowissenschaften mehr oder weniger eine fortschreitende
Instrumentalisierung menschlichen Lebens ins Kalkül nehmen,
weist die Dramaturgin und Schriftstellerin Helga Schütz in
ihrer "Anfrage an Wissenschaftler" zu Recht darauf hin, dass im
Blick auf die Wissenschaftsgeschichte mehr Bescheidenheit bei der
Wahrnehmung gegenwärtiger Erfolge angesagt ist. Denn
"Fortschritt definiert sich durch das Voran vom alten zum neuen
Irrtum".
Doch die Weichen sind längst gestellt,
wie der Biologe Konrad Bachmann in seinem Beitrag "Evolution und
Information" hervorhebt: "Es lässt sich sicher nicht
verhindern, dass wir in Bälde den ersten Roboter haben werden,
der sich selbst nachbauen kann." Der individuelle
Informationsfluss, so wie wir ihn heute noch kennen, wird sich
eines gar nicht einmal so fernen Tages von der Weitergabe
lebendiger genetischer Information vollständig emanzipiert
haben.
Gipfelt die kulturelle Evolution also im
kollektiven Selbstmord - in der Selbstabschaffung des Menschen?
Davor bewahrt uns vielleicht der bemerkenswerte Umstand, dass wir
Menschen "besonders emotionale Tiere" sind, die - so der
Humanethologe Wulf Schiefenhövel - dazu neigen, Gefühle
wie Liebe und Hass oder Trauer zu offenbaren. Mehr noch: Wir wollen
unsere tiefsten Gefühle möglichst in Symbole
übersetzen, um sie etwa in einem Kunstwerk noch mächtiger
hervortreten lassen.
Wie das abschließende
Rundtischgespräch zeigt, haben sowohl Geistes- als auch
Naturwissenschaftler vor allem den Künstlern einiges zu
verdanken. Denn nur die Kunst ist in der Lage, ein vertieftes und
umfassenderes Verständnis von der menschlichen Existenz zu
vermitteln. "Die Kunst", so der bildende Künstler Peter
Sylvester, "ist in jedem Fall ein Katalysator von menschlichen
Empfindungen, die auf keine andere Weise wiedergegeben werden
können".
Auch wenn die Autoren sich nicht immer
bemühen, ihren Wissenschaftsjargon in eine verständliche
Sprache zu überführen, vermag die Lektüre über
weite Strecken zu fesseln. Zumal wenn beispielhaft vor Augen
geführt wird, unter welch komplexen Bedingungen unser
individuelles und auch gesellschaftliches Handeln sich jeweils im
Spannungsfeld biologischer und kultureller Evolution
bewegt.
Anna M. Wobus, Ulrich Wobus und Benno Parthier
(Hrsg.)
Bewahren und Verändern im Kontext
biologischer und kultureller Evolution.
Gaterslebener Begegnung
2003.
Nova Acta Leopoldina, Neue Folge, Band 90,
Nr. 338.
Deutsche Akademie der Naturforscher
Leopoldina, Halle an der Saale 2004; 244 S., 29,95
Euro
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