Udo Scheer
Ein halbes Buch
Deutsche Schriftstellerkontakte
Der Buchtitel ist ein netter Reim: "Stille Post. Inoffizielle
Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost." Dabei träfe der
Vers anders herum den eigentlichen Kern. Dominierte das Begehren
doch von Ost nach West, die geschlossene Gesellschaft zu
durchbrechen - der Wunsch nach Erfahrungsaustausch,
Verlagsverbindungen und Lesereisen.
Auch "inoffiziell", dieses unbedarft benutzte, Stasi-belastete
Wort ist irreführend. Nicht um Stasi-Verquickungen ging es den
Autoren dieses Sammelbandes; die bleiben weitgehend ausgespart. So
lohnt einmal mehr der vergleichende Blick in Joachim Walthers
Standardwerk "Sicherungsbereich Literatur".
Professor Roland Berbig von der Humboldt-Universität Berlin
und einige seiner Studenten begaben sich vielmehr per
Standardfragespiegel, Interviews und in porträtierenden
Aufsätzen "auf die Suche nach Geschichten", wie
überwiegend gesellschaftskritische Literaten privat, halblegal
und einige durchaus mit Privilegiertenstatus den Kalten Krieg
unterliefen.
Überraschende Einblicke
Zwei Dutzend Schriftsteller fanden sich zu Selbstauskünften
bereit, unter ihnen Wolf Biermann, F. C. Delius, Günter
Kunert, Peter Rühmkorf, Joachim Walther. Und als reizvollen
Nebeneffekt offenbart mancher unbeabsichtigt überraschende
Einblicke hinter sein sonst ausgestelltes Ego.
Für Dieter Wellershoff waren Heiner Müller, Christa
Wolf oder Stefan Heym schwer einschätzbar. Ihr "Ruf autonomer
Autoren machte sie für die DDR nützlich und für den
Westen besonders interessant".
Christa und Gerhard Wolf erzählen von ihrem Bemühen um
Austausch der Literaturen, und als sei dies selbstverständlich
gewesen, über ihre Besuche bei Heinrich Böll in
Köln, bei Max Frisch in Zürich.
Peter Härtling, der über die "Gruppe 47" Franz
Fühmann kennen und schätzen gelernt habe, sah sich
"manchmal sehr genervt", etwa wenn "Dissidenten, ob Sarah Kirsch
oder Reiner Kunze" - wegen der ihnen unerträglichen
DDR-Nähe des Vorstandes - aus dem Verband austraten.
Reiner Kunze konstatiert, wie "schnell die Reihen der
Sympathisanten" sich nach seiner Übersiedlung besonders unter
west-linken Kollegen lichteten.
Glücksgriff
Ein Glücksgriff ist das Gespräch mit Günter Gaus
über die von ihm initiierten Ost-West-Künstlertreffen in
der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik als bewusste
kulturpolitische Gratwanderung. Ihre außerordentliche
Bedeutung leuchtet in mehreren Erinnerungen auf.
Mangels eines Statements von Günter Grass würdigt der
Herausgeber einige von dessen West- wie Ost-Provokationen. Angeregt
durch Bernd Jentzsch war es Grass, der Hans Christoph Buch, Max
Frisch, Reinhard Lettau, Peter Schneider und andere nach Ost-Berlin
einlud, wo man zwischen 1974 und 1980 in bald legendären
Wohnungslesungen unter anderem bei Günter Kunert, Sarah Kirsch
und Klaus Schlesinger mit Adolf Endler, Stefan Heym, Hans Joachim
Schädlich in handverlesenem Zirkel zusammentraf. "Einen
literarhistorischen Moment lang folgte der ,Gruppe 47' die ,Gruppe
74'."
Weit weniger Toleranz erfuhr ein junger Lyriker namens
Frank-Wolf Matthies, der mit seinen Wohnungslesungen seit 1978
nicht nur eine literarische Gegenöffentlichkeit schuf, sondern
der auch ein Podium zur Diskussion alternativer Deutschlandpolitik
schaffte. Nach einer Lesung von Günter Grass 1980 verhaftet
und ausgebürgert, findet sich zu dieser "Geschichte" nicht
viel mehr als eine Fußnote im Band.
Dagegen nutzt Hermann Kant die ihm gebotene Gelegenheit gewohnt
salopp. Scheinbar zusammenhanglos schwadroniert er über sein
Verhältnis zu westdeutscher Literatur: "Soweit es
überhaupt Schwierigkeiten mit Böll gab, hatten sie nichts
mit Köln, allenfalls mit dem Kölner Dom zu tun, also mit
dem Katholiken Böll und mir, seinem atheistischen Leser."
Klarer liest sich sein Auftrag im literarischen Stellvertreterkrieg
im Stasi-Nachlass: "... dass der Schriftsteller Hermann Kant einen
Artikel für das ,Neue Deutschland' schreibt, in dem er sich
gegen die ... Praktiken des BRD-Schriftstellers Heinrich Böll
ausspricht".
In diesem Artikel soll Hermann Kant auch die feindlichen
Aktivitäten von Reiner Kunze behandeln. "Es ist beabsichtigt,
diesen Artikel am 25.10.1976 im 'ND' zu veröffentlichen." ( OV
"Lyrik" X 514/68, Information 13.1.1976). Und der
Schriftstellerfunktionär funktionierte.
Marginalien und Defizite
Nicht nur am Fall des Hermann Kant zeigt sich ein gravierendes
Problem der "Stillen Post": Egal wie subjektiv die Selbstaussagen
der Autoren sind, sie bleiben allesamt unkommentiert.
Das noch größere Defizit: Eine ganze Dimension, die
der oppositionellen Autoren, verbannt der Band ins Vergessen.
Selbst der Name des verhafteten und ausgebürgerten
Schriftstellers und Menschenrechtlers Jürgen Fuchs erscheint
nur marginal. Kein Wort über seinen Einsatz für politisch
Verfolgte - Schriftsteller in der DDR, CSSR, im Iran und
Südafrika -, für deren Manuskripte und für deren
Arbeit, kein Wort über die Wut manches Westlinken angesichts
seiner Demaskierung der Diktatur im Namen des Sozialismus.
Auch wenn Roland Berbig in seiner Einführung
einschränkend schreibt: "Dieses Buch ist ein Auftakt", so ist
leider nur ein halbes - wenn auch nicht reizloses - Buch
herausgekommen. Udo Scheer
Roland Berbig (Hrsg.)
Stille Post.
Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und
Ost.
Ch. Links Verlag, Berlin 2005; 404 S., 22,90 Euro
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