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Karlheinz Lau
Als es keine Deutschen mehr gab
Was geschah im Osten nach der
Vertreibung?
"Als die Deutschen weg waren. Was nach der
Vertreibung geschah: Ostpreußen, Schlesien, Sudetenland." ist
der Titel des Buches zu einer dreiteiligen Fernsehdokumentation,
die dieser Tage im WDR ausgestrahlt wird. Eine Arbeitsgruppe
deutscher, polnischer, russischer und tschechischer Autoren um Ulla
Lachauer, bekannt durch ihr Buch "Die Brücke von Tilsit", und
den Warschauer Historiker Wlodzimierz Borodziej, Vorsitzender der
deutsch-polnischen Schulbuchkommission, hat parallel zu dieser
Serie unter Verarbeitung bisher unveröffentlichter Materialien
diesen Begleitband verfasst.
Fernsehserie und Buch behandeln einen bisher
kaum oder überhaupt nicht berücksichtigten Aspekt in der
jahrzehntelangen Vertreibungsdebatte und Forschung, nämlich
die im Grunde naheliegende Fragestellung: Was geschah eigentlich,
nachdem die Deutschen im Osten vertrieben wurden, nachdem sie ihre
Häuser und ihre Heimat verlassen hatten? Wie haben sowjetische
Besatzer und dann die zahlreichen russischen, polnischen und
tschechischen Neusiedler in Ostpreußen, Schlesien und dem
Sudetenland die Vertreibung der Deutschen erlebt? Welches Schicksal
hatten die verbliebenen Deutschen, die gezwungen wurden, Sprache
und Identität aufzugeben und sich den neuen
Lebensverhältnissen anzupassen?
Erstmalig wird für ein breiteres
Publikum unerledigtes historisches Gepäck aus dem Kapitel
Flucht und Vertreibung in der Nachkriegszeit geboten. Die erste
wissenschaftliche Publikation, die für diese Fragestellung
Material auswertet, war allerdings schon die vierbändige
Edition des Herder--Instituts Marburg "Die Deutschen östlich
von Oder und Neiße 1945 - 1950", erschienen in den Jahren von
2000 bis 2004, die amtliche Dokumentationen aus polnischen Archiven
publiziert, die das Schicksal der Deutschen im polnischen
Machtbereich beleuchten (vgl. "Das Parlament" vom 21. März
2005).
Die Autoren um Lachauer und Borodziej
dokumentieren exemplarisch die Lebensgeschichten von vertriebenen
und dagebliebenen Deutschen, neu angesiedelten Russen, Polen und
Tschechen in Tollminkehmen in der heutigen Oblast Kaliningrad, in
Groß-Döbern, nördlich von Oppeln an der Oder
gelegen, sowie in Gablonz im Sudetenland. Die heutigen Ortsnamen
können Karten entnommen werden, die - wie zahlreiche Fotos -
als wertvolle Hilfe die Darstellung illustrieren.
Die drei Orte, die bis 1945 fast
ausschließlich von Deutschen bewohnt waren, liegen heute in
russischem, polnischem und tschechischem Hoheitsgebiet. Noch
lebende Zeitzeugen schildern ihren deutschen Gesprächspartnern
ihre persönlichen Erlebnisse, Empfindungen und Eindrücke
seit Beendigung des Krieges. Es sind Neusiedler aus Russland, Polen
und der CSSR sowie Deutsche, die in ihren Heimatgemeinden blieben
oder bleiben mussten.
Heute sind sie - vielfach durch
Eheschließung - nicht mehr deutsche Staatsbürger, sondern
nur noch deutschstämmig. Viele verloren ihre
ursprüngliche Identität. Es sind erschütternde
Zeugnisse der Rechtlosigkeit und des Chaos, des Zerfalls einer
häufig noch intakten Infrastruktur. Es ist kaum
nachzuvollziehen, unter welchen Bedingungen diese daheimgebliebenen
Deutschen jahrelang leben mussten. Sie traf voll die Rache und
Vergeltung der Sieger als Antwort für die Verbrechen der
Deutschen während des Zweiten Weltkrieges; auch sie wurden
Opfer des NS-Rassewahns. Hier wurde der Gedanke der Kollektivschuld
praktiziert.
Es gab aber auch Zeichen von Hilfe und
Solidarität etwa durch russische oder polnische Neusiedler,
die häufig selbst Vertriebene aus Gebieten waren, in denen
sich Grenzen verschoben hatten - etwa in Ostpolen. Aus Deutschland
gab es nur Kontakte und Hilfe durch die Landsmannschaften. Für
die neu angesiedelten Russen oder Polen hingegen war es die
Begegnung mit einer fremden Kulturlandschaft, die im ersten
Zeitabschnitt nach Kriegsende in allen Bereichen systematisch
"entdeutscht" wurde.
Für Polen waren es urpolnische Gebiete,
die 1945 wiedergewonnen wurden. Eine Geschichte vor 1945 gab es
offiziell nicht - zumindest für die Neuankömmlinge; erst
seit den 70er- und 80er-Jahren und vor allem seit der politischen
Wende änderte sich diese Sichtweise
allmählich.
Das drückt sich deutlich in den
Beiträgen der polnischen, tschechischen und russischen
Historiker aus. Sie sollten die jeweils deutsche Perspektive
ergänzen: "Sie geben jedem der drei Ortsbilder einen
entsprechenden geschichtlichen Rahmen, um verständlich zu
machen, wo die Erinnerungen der Zeitzeugen typische Ereignisse
wiedergeben und wo aus der Sicht des Historikers eher von
Ausnahmefällen gesprochen werden muss."
Was hier in gemeinsamer Arbeit geleistet
wurde, war bis vor wenigen Jahren noch undenkbar. Die Beiträge
zeigen den heute erreichten Grad gemeinsamer Sichtweisen. Es ist
ein Stück unaufgeregter Annäherung, ja Verständigung
zwischen den Deutschen und ihren östlichen Nachbarn. Das Buch
bietet mehr als nur Begleittexte zur Fernsehdokumentation; es ist
eine solide und durch Schilderung der Einzelschicksale fesselnde
Darstellung, die Vorbild werden kann für weitere Arbeiten
über diesen Aspekt von Flucht, Vertreibung und Aussiedlung,
der bisher fehlt.
Ulla Lauchauer, Adrian von Arburg, Wlodzimierz Borodziej
(Hrsg.)
Als die Deutschen weg
waren.
Was nach der Vertreibung geschah:
Ostpreußen, Schlesien, Sudetenland. Ein Buch zur
WDR-Fernsehreihe.
Rowohlt Berlin, Berlin 2005; 317 S., 19,90
Euro
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