|
|
Enrico Syring
Kriegsgeschichte mit kleinen Fehlern
John Keegans Geschichte des Zweiten
Weltkriegs
Fast 16 Jahre nach der englischsprachigen Originalausgabe ist
die viel gerühmte Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkrieges
aus der Feder des renommierten britischen Militärhistorikers
John Keegan auch in deutscher Übersetzung erschienen. Nicht,
dass es an eingängigen wissenschaftlichen Monographien zu
diesem Thema mangelte. Die entsprechenden Arbeiten von Basil Lidell
Hart, Andreas Hillgruber, Lothar Gruchmann oder Gerhard L. Weinberg
etwa, um nur einige wenige der bekannteren zu nennen, erfreuen sich
nach wie vor einer weiten Verbreitung.
Gleichwohl hat die hierzulande lange verpönte
Militärgeschichte seit den 90er-Jahren eine erstaunliche
Renaissance erfahren, welche auch neue Detailerkenntnisse zum
Zweiten Weltkrieg zu Tage gefördert hat. Von daher macht es
also durchaus Sinn, den jeweils aktuellen Forschungsstand von Zeit
zu Zeit in einem neuen Überblick zu bündeln.
Nur: John Keegans Studie verharrt auch in ihrer Übersetzung
auf dem Stand von 1989. Die neueren Untersuchungen zur
Sozialgeschichte der deutschen Wehrmacht oder diejenigen zur
Besatzungswirklichkeit in den deutschbesetzten Gebieten in der
Sowjetunion beispielsweise finden von daher noch keine Beachtung.
Nicht, dass Keegans Buch damit gänzlich überflüssig
geworden wäre. Vielmehr entwickelt der Autor eine in ihrer
Allgemeinverständlichkeit fesselnde Darstellungskraft, die das
Buch gerade für den interessierten Laien und für die
politische Bildung interessant macht.
Mit spürbarer Freunde am Erzählen, klar gegliedert und
mit vielen plastischen Schilderungen und Anekdoten gewürzt,
weiß Keegan den Leser in seinen Bann zu schlagen. Diese
außerordentliche Lebendigkeit, diese wahrhafte "Lust zu
fabulieren" lässt beim Rezensenten die Vermutung aufkommen,
Keegan habe seine Arbeit im engen handwerklichen Sinne gar nicht
selbst schriftlich niedergelegt, sondern zur Gänze
diktiert.
Jedenfalls weist sein Buch neben den genannten Vorzügen
auch alle Nachteile auf, die einem freien mündlichen Vortrag
gemeinhin anhaften: Zuweilen lässt sich der Autor vom Schwung
seiner eigenen Erzählung fortreißen. Manche Schilderung
wird "schief", es unterlaufen im Eifer des Gefechts Fehler in den
schlichten Fakten, die einem so vorzüglichen Kenner der
Materie bei ruhiger Überlegung definitiv nicht passiert
wären: So lag etwa das deutsche Schlachtschiff "Tirpitz" nie
im Hafen von St. Nazaire; der alliierte Konvoi PQ 17 wurde nicht
von den in Norwegen stationierten schweren deutschen
Überwassereinheiten, sondern von der deutschen Luftwaffe
zerschlagen; die "Leibstandarte-SS Adolf Hitler" war die 1. und
nicht die 2. SS-Panzerdivision; der damals umstrittene Einsatz der
amerikanischen Pazifikflotte in der Philippinensee wurde von
Admiral Spruance und nicht von Admiral Halsey kommandiert.
Mit der Frage der Kriegsschuld hält sich Keegan nicht
weiter auf. Er lässt hier jedoch deutlich Sympathie für
die Thesen A. J. P. Taylors erkennen, dessen Buch "Die
Ursprünge des Zweiten Weltkrieges" zu Beginn der 60er-Jahre
für Aufruhr sorgte, weil es die Alleinschuld Deutschlands
beziehungsweise Hitlers relativierte. Keegan zufolge ist es jedoch
in der Tat ergiebiger, der Frage nachzugehen, wie der Zweite
Weltkrieg möglich wurde, als neuerlich zu beschreiben, wie er
zustande kam. Daher holt er relativ weit in die Geschichte aus, bis
zur Militarisierung Europas im Verlauf des 19. Jahrhunderts, den
Folgen der industriellen Revolution und dem Aufkommen der
allgemeinen Wehrpflicht.
Nach dem Erleben des Ersten Weltkrieges sei dann überall in
Europa die Idee verbreitet gewesen, Staat und Gesellschaft nach dem
Vorbild der militärischen Apparate umzumodeln. Niemand habe
diese Vorstellungen tiefer verinnerlicht als Adolf Hitler. Sein
Ziel sei es gewesen, Deutschland jenen Status wieder zu geben, den
es zuvor im Ersten Weltkrieg innegehabt habe.
Seine Darstellung des Kriegsgeschehens hat der Autor in sechs
Abschnitte gegliedert. Jeder beginnt mit der Analyse des
"strategischen Dilemmas" desjenigen Staatsführers, bei dem die
Initiative während des jeweiligen Zeitraumes gelegen hat.
Zunächst war dies Hitler, dann Tojo, dann Churchill, dann
Stalin und dann schließlich Roosevelt. Der Analyse folgt in
jedem Abschnitt die Schilderung des faktischen Kriegsverlaufs. Den
Abschluss bildet jeweils die Beschreibung einer Schlacht, in
welcher eine für den Zweiten Weltkrieg charakteristische Art
der Kriegsführung im Vordergrund steht: der Luftkrieg
(Schlacht um England), der Einsatz der Luftlandetruppen (Schlacht
um Kreta), die Flugzeugträger (Midway), die Panzer (Falaise),
der Straßen- und Häuserkampf (Berlin) sowie amphibische
Operationen (Okinawa).
Bei Keegan dominiert neben der Politikgeschichte mithin das, was
man im deutschen Sprachgebrauch Kriegsgeschichte nennt.
Wirtschafts- und Sozialgeschichte werden zwar nicht völlig
ignoriert, allerdings eher punktuell als "Hintergrundgeschichte"
mit in die Darstellung einbezogen. Trotz aller angesprochenen
Mängel bleibt Keegans Gesamtdarstellung gleichwohl eine auch
für den Fachhistoriker anregende Lektüre - gerade dort,
wo sie ihn zum Widerspruch reizt.
John Keegan
Der Zweite Weltkrieg.
Aus dem Englischen von Hainer Kober.
Rowohlt Verlag, Berlin 2004; 896 S., 34,90 Euro
Zurück zur
Übersicht
|