|
|
Roland Löffler
Die Nation - ein tagtägliches Plebiszit
Nationalismus als ewig junges Thema der
Geschichtsschreibung
Wer sich mit dem Thema "Nationalismus" beschäftigt, steht
rasch vor einem Dickicht höchst komplizierter Fragen: Wie
bilden sich Nationen, wie gehen sie mit Minderheiten um, was
für eine Staatsform geben sie sich, welches
Selbstverständnis entwickeln sie? Und warum sind Kultur und
soziale Organisation scheinbar universell und unvergänglich,
Staaten und Nationen dagegen nicht, wie der Altmeister der
Nationalismusforschung, Ernest Gellner, einst meinte?
Fragen über Fragen. Es wäre zuviel verlangt, wenn ein
Autor darauf alle Antworten geben könnte. Dem Karlsruher
Historiker Rolf Ulrich Kunze gelingt es in seinem neuen Band
allerdings, einige Schneisen in diesen Wald zu schlagen. Mit
analytischer Klarheit und dem Mut zu kompakten Systematisierungen
gibt der Geschäftsführer der "Forschungsstelle Widerstand
gegen den Nationalsozialismus im deutschen Südwesten" an der
Universität Karlsruhe eine komprimierte Einführung in die
Materie.
Das Buch ist in der neuen Reihe "Kontroversen in der Geschichte"
erschienen, mit der die Wissenschaftliche Buchgesellschaft wohl die
Dominanz der 76-bändigen "Enzyklopädie Deutscher
Geschichte" des Oldenbourg Verlags herausfordern will. Ob dies
gelingt, wird sich zeigen. Die Konzeption der Reihe lehnt sich
offenkundig an die amerikanischen College-Reader an, die einen
profunden, aber didaktisierten Überblick über die
jeweilige Materie geben und Studierende auf Vorlesung und Examen
vorbereiten.
Kunzes Nationalismus-Einführung braucht keinen Vergleich zu
scheuen, ist allerdings in zweierlei Hinsicht sehr "deutsch"
geraten: Erstens fehlen im Vergleich zum US-Vorbild, abgesehen von
einem längeren Abschnitt zur niederländischen Geschichte,
Fallbeispiele, die die theoretische Darstellungen illustrieren.
Zweitens gibt es praktisch keine längeren Originaltexte. Dies
dürfte vermutlich weniger Kunze als der Reihenkonzeption
anzulasten sein.
Inhaltlich stützt sich Kunze auf die mittlerweile
klassische konstruktivistische These des amerikanischen Historikers
Bendict Anderson, wenn er gleich zu Beginn schreibt: "Nation,
Nationalstaat, Nationalismus sind keineswegs Begriffe, die sich von
selbst verstehen. Sie sind weder Schöpfungsordnungen noch
uralt, sondern vielmehr konstruriert: Konzepte einer bestimmten
sozialen Trägerschicht einer spezifischen Gesellschaft zu
einer bestimmten Zeit, teils Ergebnisse, teils Voraussetzungen
sozioökonomischen und soziokulturellen Wandels."
Solidargemeinschaft
Schon der französische Religionswissenschaftler Ernest
Renan sprach in seinem wegweisenden Vortrag von 1882 "Was ist eine
Nation?" davon, dass Nationen durch Willensentscheidungen
entstünden; er nannte sie ein "Plebiszit, das sich jeden Tag
wiederholt". Die Nation sei vor allem eine Solidargemeinschaft, die
sich durch geleistete und zukünftige Opfer zusammenschliesse,
was stets eine selektive Wahrnehmung der Geschichte mit sich
bringe. Rasse, Sprache, Geographie waren deshalb für Renan
kein einheitsstiftendes Nationalprinzip.
Renans Thesen aufnehmend, arbeitet Kunze heraus, dass es sich
beim Nationalismus zunächst um ein Phänomen der
atlantisch-europäischen Moderne handelt, das stets
kontextorientiert und anfangs stets von kleinen Bildungseliten
geformt worden sei. Über "Multiplikationsagenturen" wie Kanzel
und Katheder würden die Ideen unters Volk gebracht,
entstünden nationalistische Massenbewegungen. Im Zuge der
weiteren Entwicklung kann der Nationalismus allerdings seine
Funktion verändern: Oft tritt er zunächst als
Befreiungsbewegung auf, die politisch den Nationalstaat,
ökonomisch den eigenen Markt und kulturell die Durchsetzung
der eigenen Sprache fordere.
Kommen jedoch verschiedene, beängstigende
Modernisierungsphänomene zusammen, verliere der Nationalismus
seine progressive Integrationskraft und werde zu einer
Abwehrhaltung und Ausgrenzungsideologie. Dieser Funktionswechsel
des Nationalismus hat gerade im Blick auf die deutsche Geschichte
im 19. und 20. Jahrhundert Bedeutung.
Für die weitere Erforschung der Nationalismus-Problematik
erwartet Kunze - besonders mit Blick auf Osteuropa nach 1989 - eine
stärkere Verschränkung von sozial- und
kulturgeschichtlichen Fragestellungen. Er warnt davor,
mitteleuropäische Definitionen leichthin auf die ehemaligen
Staaten des Warschauer Paktes zu übertragen. Die
Nationalismusforschung bleibt also ein politisch wie
wissenschaftlich spannendes Feld. Sie braucht allerdings Forscher,
die sich einen analytischen Blick bewahren und sich nicht als
politische Legitimierungsagenten von Nationalismus missbrauchen
lassen, denn dies war, wie Kunze zeigt, oft eine Gefahr, in die
Nationalismusforscher - nicht selten sogar bereitwillig -
gerieten.
Rolf Ulrich Kunze
Nation und Nationalismus.
Kontroversen um die Geschichte.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005; 126 S.,
16,90 Euro
Zurück zur
Übersicht
|