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Christian Hacke
Die aktuellen Ratschläge des Lawrence von
Arabien
Staaten und Nationen lassen sich nicht aus der
Erde stampfen
An der Schwelle des 21. Jahrhunderts ist die
Schaffung von stabilen, kooperativen und friedensorientierten
Nationen zu einem Hauptproblem der Weltpolitik geworden. Schwache
oder gescheiterte Staaten sowie Schurkenstaaten bilden die zentrale
Gefahr unserer Zeit. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass
Nationenbildung kein neuartiges Phänomen ist. Welche
politische Gemeinschaft hat die größte Bedeutung im Leben
der Menschen? Welche ist die wichtigste für unsere
täglichen Entscheidungen? Welche beansprucht die tiefste
Loyalität?
Familie, Sippe, Stamm, Kriegshorde, das Dorf,
der Stadtstaat, die Polis, das Königreich, das Imperium und
schließlich die Nation bildeten im Laufe der Jahrtausende die
wesentlichen Größen. Aber weltgeschichtliche Bedeutung
haben Nationen erst seit dem 16. und 17. Jahrhundert erlangt:
zuerst in Europa, 1776 in Nordamerika, ab 1810 in Lateinamerika,
zumeist erst nach 1945 in Afrika und Asien.
Wie und wann reißen sich Nationen aus
größeren politischen Einheiten wie zum Beispiel Imperien
los? Wie entwickeln sie sich umgekehrt aus kleineren Einheiten, aus
Stämmen, Volksgruppen, religiösen Gemeinschaften zu
Staaten und Nationen? Wie integrieren sie sich in den Bauvorgang
einer entstehenden Nation? Und wie sieht schließlich die
Wechselwirkung zwischen Staats- und Nationenbildung aus?
Manche sprechen vom Wachstum, andere
bevorzugen den Begriff Nationenbildung, wiederum andere betonen
nationale Entwicklung. Wachstum suggeriert eine organische
Entwicklung und unterstellt Kreisläufe von Blüte, Reife,
Verfall und Absterben, wie die alten Griechen vermuteten. Nationale
Entwicklung suggeriert Freiheit und Offenheit. Im Gegensatz dazu
beinhaltet Nationenbildung ein architektonisches, ja
mechanistisches Entwicklungsmodell, so wie ein Haus, das nach
verschiedenen Entwürfen nach dem Willen und Vermögen
seines Bauherren errichtet wird.
Die Entscheidung für eine nationale
Orientierung hängt oft von der Selbstbehauptung gegenüber
einem gemeinsamen Feind ab. Das spanische Volk fand seine
staatliche Identität im Kampf gegen die arabische
Vorherrschaft, Deutschland 1870/71 im Krieg gegen Frankreich und
die Gründung der USA 1776 ist ohne den erfolgreichen
Unabhängigkeitskrieg gegen die englischen Kolonialherren nicht
denkbar.
Nation ist also das Ergebnis von
Transformation eines Volkes innerhalb eines umfassenden
Mobilisierungsprozesses. Die Menschen entdecken, dass sie ihre
Interessen im politischen und ökonomischen Wettbewerb optimal
im Nationalstaat und dann möglichst kooperativ aber auch in
Bereitschaft zur Konfrontation fördern können. In einer
Welt extremer Unterschiede mit Blick auf Lebensstandard, Sicherheit
etcetera neigen Menschen dazu, die Nation instrumental zur
Verbesserung ihrer eigenen Lebenssituation gegenüber ihrem
Nachbarn zu gebrauchen.
Diese Erkenntnis erfordert gerade in
Deutschland ein gewisses Umdenken, denn der Nationalsozialismus hat
das nationalstaatliche Denken und Handeln rassistisch und
kriegerisch pervertiert, so dass die Deutschen seitdem ihre neue
Identität lieber im europäischen Gemeinschaftsrahmen
suchen. Auch nach der Vereinigung Deutschlands 1990 wurde
konsequenterweise die europäische Integration forciert,
während nationalstaatliche Bewusstseinsbildung weitgehend
ausblieb. Im Zuge forcierter Globalisierung in den 90er-Jahren
schien das Absterben des Nationalstaates vorprogrammiert und aus
deutscher Sicht sogar wünschenswert. Doch haben sich die
Globalisierungsoptimisten geirrt, die dem Nationalstaat das
Totenglöckchen läuten wollten. Unter dem Eindruck der
dunklen Seiten der Globalisierung, der neuen Kriege und
Bürgerkriege seit den 90er-Jahren und vor allem hinsichtlich
des 11. Septembers 2001 und des Anstiegs vom weltweiten
islamistischen Terror hat sich das Verlangen der Menschen nach mehr
und besserem staatlichen Schutz vergrößert.
Vor allem in den ärmeren Regionen der
Welt ist der Mangel an nationalstaatlicher Leistungsfähigkeit
zum Problem geworden, so dass dort Terror,
Rückständigkeit, zusammengebrochene Staatsstrukturen und
die Gefahr von Massenvernichtungswaffen auch zur Gefahr für
die Weltpolitik geworden sind. Das Beispiel von neuem Nationenbau
an der Schwelle des 21. Jahrhunderts in Mittel- und Osteuropa
bleibt Produkt einer genuinen Entwicklung und lässt sich kaum
auf andere Länder und Kontinente übertragen.
Auch in Europa scheint sich der
Integrationsprozess - also der Zusammenschluss der Mitgliedsstaaten
zu einem Bundesstaat - festzulaufen. Keine Nation will sich
völlig aufgeben. Der Selbstbehauptungsnationalismus,
hautpsächlich in Osteuropa beheimatet, aber auch in Frankreich
verankert, macht Schule. Deshalb ist eine neue Balance zwischen
Nation und Integration nötig. Die nationalstaatlichen
Industriedemokratien in der Triade Nordamerika, Europa, Japan
beweisen weltweit gesehen kluge Anpassungs- und neue
Steuerungsfähigkeiten bei den neuen Herausforderungen. Doch
während die USA und die Mehrheit der asiatischen
Nationalstaaten die Globalisierung als Chance nutzen,
schwächeln die meisten europäischen Nationalstaaten, weil
das Gemeinschaftsprojekt überdehnt wurde und es ihnen
andererseits an genügend nationalstaatlicher Selbstbehauptung
fehlt. Sie haben die Wohlfahrtsstaatlichkeit übertrieben -
insbesondere in Deutschland und Frankreich - und erscheinen heute
ratlos, Staat und Nation konsequent und kraftvoll umzubauen.
Nation-Building beginnt also zu Hause!
Bevor Deutsche und andere Europäer kluge
Ratschläge in der Dritten Welt verteilen, sollten sie erst
sich selbst beispielhaft auf die neuen Herausforderungen
einstellen. So wirkt es wenig überzeugend, wenn die ratlosen
Demokraten in Europa kluge Modelle für weltweites
"Nationenbauen" anbieten, aber selbst schwächeln und dazu noch
protektionistisch und möglichst risikolos ihre Privilegien
gerade im Nord-Süd-Verhältnis der Weltpolitik aufrecht zu
erhalten suchen. Nation-building "à la carte européenne"
war schon die falsche Antwort in den 60er-Jahren. Sie war eher
Zeichen von schlechtem postkolonialen Gewissen. Entwicklungshilfe
wird heute leider noch zu oft in diesem Sinne fantasielos
fortgesetzt.
Doch schon in den 50er-Jahren waren die
Versuche der transatlantischen Industrienationen, aber auch der
sozialistischen Führungsmächte Sowjetunion und Rot-China
gescheitert, die Staaten und Nationen der Dritten Welt nach ihrem
eigenen Vorbild zu modernisieren. Beide Lager verstanden
Nation-Building im Kontext des Kalten Krieges als Alternative zur
Gegenseite. Beide scheiterten, wenn auch aus unterschiedlichen
Gründen. Seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums im Jahr
1991 ist das sozialistische Modell zwar weltweit diskreditiert.
Aber, so scheint es, der Westen will von eigenen Erfahrungen nichts
lernen. Nach wie vor scheitert Nation-Building, vor allem in Afrika
und im Nahen Osten, weil die andersartigen historischen,
kulturellen und sozialen Bedingungen verkannt werden und das
Füllhorn westlicher Entwicklungshilfe weiter primär den
korrupten Eliten zugute kommt. Folglich werden gerade in Afrika
zerfallene Staaten, korrupte Regime, zerstrittene Volksgruppen und
neue organisierte Kriminalität im globalen Ausmaß nicht
eingedämmt, sondern gestützt. Insbesondere in der
muslimischen Welt wirkt seit dem Irak-Krieg der Westen eher als
abschreckendes Beispiel.
Wie soll Nation-Building heute weltweit vor
diesem Hintergrund stattfinden? Soll der Westen im Zeichen von
Demokratie und Menschenrechten Staaten durch nicht
militärische Hilfe (wieder) herstellen oder soll durch
humanitäre Intervention, sogar durch Krieg wie im Fall Irak,
Nation-Building rigoros erzwungen werden? Wann, wie und mit welchen
Mitteln können Nationalstaaten oder Gemeinschaftsinstitutionen
intervenieren, um Staaten aufzubauen?
Der Grundsatz, dass sich die Staaten dieser
Welt nicht in andere Staaten einmischen, sollte neu belebt werden.
Denn staatliche Souveränität gilt nach wie vor als
zentrales Struktur- und Handlungsprinzip in einem System
souveräner Nationalstaaten. Hungerkata-strophen, Genozid,
Terror und zerfallende Staaten lassen die Staatengemeinschaft von
diesem Grundprinzip zwar immer öfter abrücken. Leider
zeigen die Interventionen seit den 90er-Jahren aber kaum
durchschlagenden Erfolg. Die Bilanz der vergangenen 15 Jahre von
humanitärer Intervention ist sehr enttäuschend. Die
Hilfs- und Unterstützungsprogramme der reichen
Industrienationen, vor allem im Rahmen der UNO, haben als
traditionelle Entwicklungshilfe aufs Ganze gesehen ebenfalls kaum
Fortschritte gebracht und eher dazu gedient, unmenschliche Regime
zu stabilisieren. Drohungen mit diplomatischen, wirtschaftlichen
und militärischen Sanktionen bis zum Extremfall des Einsatzes
militärischer Mittel bilden ein weites Spektrum von
Maßnahmen, die mit dem Einrichten von Flugverbotszonen
beginnen und mit dem Einsatz von Streitkräften enden
können. Doch Vorsicht ist geboten: Der Schritt von der
humanitären Intervention kann schließlich zum Protektorat
führen.
Außerdem werden in der Regel die
Probleme verschärft, wenn mehrere Staaten oder
Gemeinschaftsinstitutionen handeln. Rivalisierende Interessen und
unterschiedliche Einstellungsmuster führen zu oft dazu, dass
gutgemeinte Interventionen unter hohen Reibungsverlusten Blockaden
und Widersprüchlichkeiten produzieren oder sogar die
Zielsetzungen gefährden.
Leider gibt es kein Patentrezept für
erfolgreiches Staaten- oder Nation-Building. Viele Faktoren
müssen eigentlich zusammenwirken, wie zum Beispiel in OstTimor
oder vorübergehend in Bosnien. Voraussetzung bei beiden
Interventionen war jedoch die Bereitschaft der UNO,
militärisch einzugreifen, Kriege zu unterbrechen oder
Aggressoren in die Schranken zu weisen.
Doch ansonsten überwiegen die negativen
Beispiele. Die humanitäre Solidarität wird allzu oft
missbraucht. Vor allem die Form der so genannten "humanitären
Intervention" hält Kriege eher am Laufen. Die Warlords, die
Mafiosi und autokratischen Regimes von auseinanderbrechenden
Staaten nutzen die mediale Inszenierung von Hunger und Elend, damit
internationale Hilfsorganisationen herbeieilen und dann im Land
ausgenutzt werden können. Flüchtlingslager
begünstigen neue Brutstätten der Gewalt. Die Lieferungen
von Lebensmitteln und Medikamenten kommen nicht nur den
Bedürftigen, sondern auch den Armeen der Warlords und
Diktatoren zugute. Alle suchen hiervon zu profitieren. So hat sich
Solidarität angesichts des menschlichen Leids in zerfallenden
Staaten zu einem Bestandteil moderner Kriegsfinanzierung im Rahmen
der asymmetrischen Kriege entwickelt. Ein Teil der Güter darf
im Lager ausgegeben werden, den anderen Teil sichern sich die
Kriegsfürsten, um damit Loyalitäten und
Abhängigkeiten zu schmieden und nicht zuletzt die eigenen
Einkünfte zu erhöhen. Zivile Intervention ist also
risikoreich. Aber unbeteiligtes Abseitsstehen kann nicht die
Alternative sein, wie der Völkermond in Ruanda 1994
zeigte.
Er war nicht der spontan-archaische Ausbruch
von alten Stammesfehden, sondern eine bewusste, kalkuliert geplante
Entscheidung einer brutalen Militärjunta sich durch Hass,
Angst und Vertreibung die Macht zu sichern. Die UNO und die
hauptverantwortlichen Weltmächte sahen weg. Auch im Ruanda
wurden keine UNO-Truppen zur Intervention bereitgestellt.
Andernorts, wo sie für Ordnung und Sicherheit sorgen sollten,
fehlten sowohl ein so genanntes "robustes Mandat" - so lautet im
UN-Jargon das bewaffnete Mandat - als auch genügend
Zivilcourage, geschweige denn politische und militärische
Entschlossenheit, um Mord und Terror zu stoppen.
UN-Truppen sahen in den 90er-Jahren auf dem
Balkan den Bürgerkriegen eher zu, da sich die Mächte des
UN-Sicherheitsrates nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen
konnten. Auch sind die bunt zusammengewürfelten UN-Truppen
durch Fälle von Korruption und Vergewaltigung ihrer
Schutzbefohlenen selbst in Misskredit geraten. Die
Friedenseinsätze der Vereinten Nationen bedürfen einer
dringenden Reform. Das institutionalisierte und beschönigende
"Weltgewissen UNO" ist eher eine eitle Selbstbespiegelung und
hält der Realität nicht stand.
Auf diese Weise kann der dramatisch
angestiegenen Privatisierung und Kommerzialisierung des Krieges,
vor allem durch reine humanitäre Intervention nicht
erfolgreich begegnet werden. Wo staatliche Strukturen zerstört
werden, wo staatliche Akteure sich an der Plünderung von
Ressourcen beteiligen, eigene Milizen gründen oder die Armee
kommerzialisieren, wo also Bürgerkriegs- und
Gewaltökonomien eine zentrale Rolle spielen und wo keine
Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten, zwischen
politischen und ökonomischen Akteuren mehr möglich ist,
wo das militant abgedeckte Verbrechen rücksichtslos um sich
greift, kann humanitärer Idealismus nicht
reüssieren.
Die Schwachen müssen durch
militärische Entschlossenheit und nachhaltiges Engagement von
außen beim staatlichen beziehungsweise nationalen Wiederaufbau
abgestützt werden. Doch muss zuvor Klarheit über den
angestrebten politischen und militärischen Endzustand
herrschen. Ansonsten degeneriert die militärische Intervention
zum Selbstzweck.
Nicht diffuse Humanität, sondern
nüchterne Interessensorientierung tut also beim Nation
Building Not. Voraussetzung kann der erzwungene Regimewechsel sein,
aber dem von außen herbeigeführten Regimewechsel muss ein
planmäßiger und langfristiger Wiederaufbau folgen. Es
nützt nichts, den Krieg zu gewinnen, aber den Frieden zu
verlieren.
Der Rückblick ins 20. Jahrhundert
verweist nicht nur bei der UNO, sondern auch beim wichtigsten
internationalen Akteur, den USA, auf eine ambivalente Bilanz des
Nation-Building: Auf den Philippinen, in Mexiko und in den
mittelamerikanischen Kleinstaaten wirkte amerikanische Intervention
primär stabilisierend. In Japan und Deutschland, in
Südkorea und in Taiwan war das amerikanische Nation Building
nach 1945 sogar außerordentlich erfolgreich. Im karibischen
Raum hingegen blieb der Erfolg aus und in der mittelamerikanischen
Nachbarschaft sowie in Südvietnam wurde es sogar zur
Katastrophe.
In der muslimischen Welt wird Nation-Building
von außen heute als Bedrohung, als Ausdruck eines
westlich-universalen Missionsgedankens verstanden. In Mittel- und
Osteuropa hingegen werden die USA als stärkste demokratische
Macht bestätigt, ohne die die Idee vom souveränen
demokratischen Nationalstaat in Europa nicht
überlebensfähig gewesen wäre. Das 20. Jahrhundert
hat von 1917 an, als die Vereinigten Staaten in den Ersten
Weltkrieg eintraten, die Rolle der USA als wichtigsten Nation
builder eindrucksvoll bestätigt. Indes fehlt den Amerikanern
ein Konzept für erfolgreiches Nation-Building zu Beginn des
21. Jahrhunderts in den nicht-europäischen Teilen dieser
Welt.
Doch nicht nur die oft gescholtene USA
alleine, sondern auch die vermeintlich besserwissende
Weltgemeinschaft sieht sich damit konfrontiert, dass 43
Friedensoperationen der Vereinten Nationen im vergangenen
Vierteljahrhundert mit dem Ziel des Nation- Building gescheitert
sind. Gerade in Afrika, wo mehr als ein Drittel aller bisherigen
Blauhelmeinsätze stattfanden, blieb der Erfolg aus.
Entschlossene Diktatoren und vor allem solche, die selbst den
Genozid ihres Volkes nicht scheuen, wie Saddam Hussein im Irak,
sind alleine durch humanitäre Interventionen nicht zu stoppen.
Somalia, Haiti, Bosnien, Kosovo, Afghanistan und Irak - wohin man
schaut, nirgends überzeugende Erfolge beim Aufbau
gescheiterter Staaten. Was hat der Westen, der das größte
Interesse an Nation-Building hat, falsch gemacht?
Jeder Nationalstaat oder jede
Gemeinschaftsinstitution sollte nur dann den riskanten Weg der
Intervention einschlagen, wenn grundlegende eigene nationale
Interessen auf dem Spiel stehen und wenn sich ein Völkermord
abzeichnet. Interessen und Verantwortungsbewusstsein müssen
stärker zusammenwirken.
Die Probleme der Staatenbildung sind im
Wesentlichen politischer und kultureller, aber weniger
militärischer Natur. Trotzdem gibt es keine standardisierte
Vorgehensweise. Was hier richtig ist, mag dort falsch sein. Aber
sich stets auf die zentralisierte Kontrolle über einen
gescheiterten Staat zu konzentrieren, war der falsche Weg. Vielmehr
empfiehlt sich, ein von unten nach oben organisierter, dezentraler
(Wieder-) Aufbau von Staaten und Nationen. Der Zusammenbruch von
Nationalstaaten ist ja prinzipiell die Folge von
übersteigerter und fehlgeleiteter Zentralisierung.
Die Bedeutung lokaler Faktoren als
Voraussetzung für den Aufbau von Institutionen, Strukturen und
Mentalitäten ist die Nagelprobe für den Erfolg: Lokale
Eliten müssen die ersten Adressaten sein. "Erfahre soviel wie
möglich über die Stämme. Lerne ihre Familien, Sippen
und Titel, Freunde und Feinde, ihre Brunnen, Hügel und
Straßen kennen", wie Lawrence von Arabien (Thomas E. Lawrence,
1888-1935) als Kenner arabischer Mentalität seinen arabischen
Freunden im Kampf gegen die osmanische Herrschaft zu Beginn des 20.
Jahrhunderts empfahl.
Intervenierende Staaten und Organisationen
sollten sich auf die Position des Beraters oder Förderers
beschränken, aber niemals selbst die Führung
übernehmen: "Je weniger deutlich man interveniert, desto eher
kann man auch Einfluss ausüben", so Lawrence von Arabien, der
vor allem die Interventionisten davor warnte, sich die Position
eines Richters anzumaßen.
Kenntnis, Sensibilität, ja Liebe
für die fremdartigen, wirtschaftlichen, sozialen,
soziologischen, historischen und kulturellen Faktoren des Landes
sind zentral für Erfolg. Legitimität der Intervention
stellt sich erst dann ein, wenn man die kulturellen Normen des
Landes versteht und nicht, in dem man westliche Muster
überträgt und überstülpt. Das wird nicht als
Hilfe, sondern als Bedrohung empfunden! Man muss Land und
Bevölkerung in ihrem Wesen begreifen und achten, aber nicht
erziehen wollen.
Staaten lassen sich nicht aus der Erde
stampfen, lassen sich nicht wie Wolkenkratzer bauen. Vielmehr
brauchen sie Zeit, um in langen Zeiträumen zu wachsen. Wer
interveniert, muss wissen, dass er entweder solche Gebäude,
wie marode sie auch sein mögen, nur mit großen
Anstrengungen umgestalten kann. Wer von außen eingreifend
mitbauen will, muss sich auf jahrzehntelanges Engagement
einstellen.
Professor Christian Hacke lehrt Politikwissenschaften an der
Universität Bonn.
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