Caroline Hornstein Tomi\æ
Kampf um das Leopardenfell
Bosnien-Herzegowina: Der verhinderte
Staat
Im Zuge der 90er-Jahre hat der jugoslawische
Zerfallsprozess neben Slowenien und Kroatien die Staaten und
Staatengebilde Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Serbien und
Montenegro hervorgebracht sowie die staatsähnliche Region
Kosovo. Beim Gipfel der Europäischen Union im Jahr 2003 in
Thessaloniki wurde ihnen die künftige EU-Mitgliedschaft
verbindlich in Aussicht gestellt. Seither ist die Sogwirkung
Europas in diesen Ländern noch stärker ausgeprägt
als vorher schon.
Die anfängliche Euphorie ist
mittlerweile allerdings dadurch gedämpft, dass die
Annäherung an die EU das Problem schwacher Staaten und
unvollendeter Staatsbildungsprozesse augenfällig macht.
Bosnien-Herzegowina sticht dabei als "verhinderter Staat" besonders
hervor. Im Frühjahr 1992 vollzog die ehemalige Teilrepublik
mit der Unabhängigkeitserklärung ihre offizielle
Herauslösung aus dem damaligen jugoslawischen Staatsverband.
Von ihrem Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch machend, sprachen
sich die muslimischen und kroatisch-katholischen Bürger in
einem Referendum mehrheitlich für die staatliche
Selbstständigkeit aus; die serbisch-orthodoxe Bevölkerung
dagegen folgte zu einem Großteil dem Boykottaufruf ihrer
politischen Führung und votierte so für den Verbleib im
jugoslawischen Staatsverband. Mit der kurz darauf von serbischen
Politikern in Bosnien-Herzegowina ausgerufenen Republik Srpska
begannen zugleich die ersten Kriegshandlungen und ethnische
Vertreibungen, die im Verlaufe eines von 1992 bis 1995 lodernden
Krieges das ehemals multiethnische und multireligiöse
Leopardenfell, das für Bosnien-Herzegowina als
charakteristisch galt, in ethnische Schwerpunktgebiete
aufteilte.
Bereits im frühen Stadium des Krieges
wurden UN-Friedenstruppen nach Bosnien-Herzegowina verlegt.
Beauftragt, einen Frieden zu überwachen, den es nicht mehr
gab, begann das Debakel einer von widerstrebenden Interessen
geleiteten, internationalen humanitären Intervention. Diese
wird mit dem Datum des nicht verhinderten Massenmords in der
UN-Schutzzone Srebrenica im Juli 1995 auf Dauer assoziiert bleiben.
Erst die militärische Intervention durch NATO-Truppen konnte
den Weg für einen umfassenden Waffenstillstand ebnen. Mit dem
Friedensabkommen von Dayton (DPA) wurde im November 1995 ein Ende
der Kampfhandlungen und eine Übereinkunft der drei
Kriegsparteien über die territoriale und
politisch-administrative Einrichtung eines gemeinsamen Staates
Bosnien-Herzegowina erzielt. Mit der Aufteilung
Bosnien-Herzegowinas in zwei quasi-staatliche Entitäten
(Republik Srpska und die bereits im Washington Agreement 1994
paraphierte kroatisch-bosniakische Föderation mit einer
eigenen Unterteilung in zehn Kantone) wurde das fragile Gebilde
eines zweigeteilten Staates dreier Nationen geschaffen.
Neben der militärischen wurde eine
umfangreiche zivile Interventionsstruktur installiert, mit einem
Hohen Repräsentanten (Office of the High Representative OHR)
an der Spitze, der dem so genannten Friedens-implementierungsrat
der Internationalen Staatengemeinschaft gegenüber
rechenschaftspflichtig ist. Während anfänglich 60.000
NATO-Soldaten für die Entwaffnung der Kriegsparteien und die
Sicherung des Waffenstillstandes sorgten, nahmen sich unter dem
Schirm des OHR multilaterale Organisationen wie UNO, UNHCR und OSZE
an der Seite lokaler Autoritäten den zivilen Aspekten der
Friedensimplementierung an. Damit wurde die doppelschichtige
politische und administrative Struktur eines eingeschränkten
Protektorats etabliert.
In der ersten Phase nach Kriegsende, in der
Entwaffnung, physischer Wiederaufbau von Infrastruktur,
Minenräumung und erste Flüchtlingsrückführungen
im Vordergrund standen, zeichnete sich jedoch bereits ab, dass
gegen den Widerstand durch Wahlen legitimierter lokaler Kräfte
die Reintegration des Landes und der Aufbau gemeinsamer Strukturen
kaum zu leisten sind.
So wurde auf der Bonner Konferenz des
Friedensimplementierungsrates 1997 der Hohe Repräsentant mit
als "Bonn Powers" bezeichneten Vollmachten ausgestattet, die ihn
zur Entlassung von lokalen Amtsträgern, die sich dem
Friedensprozess entgegenstellten, sowie zum Erlass von Gesetzen
ermächtigten. Damit war die zweite Nachkriegsphase des
logistischen und institutionellen State-Building eingeleitet. Durch
den Einsatz der "Bonn Powers" konnten eine gemeinsame Flagge, Hymne
und Währung eingeführt und Hindernisse beim Aufbau des
staatlichen Grenzschutzes überwunden werden; Reformen im
Justiz-, Zoll- und Steuerwesen kamen voran.
Andere Aspekte der Friedensimplementierung
hingegen sind auf das Zusammenwirken lokaler und internationaler
Anstrengungen zurückzuführen - etwa die nahezu
vollständige Umsetzung der Ansprüche auf
Eigentumsrückgabe und die Erfolge des Rückkehrprozesses.
Im Verlauf der vergangenen Jahre konnten auf internationalen Druck
in komplexen, lokalen Aushandlungsprozessen zwischen den
politischen Vertretern und Eliten der drei konstitutiven
Volksgruppen sogar die Integration der Sicherheitsdienste, ein
gemeinsames Verteidigungsministerium, schließlich vor wenigen
Wochen die Zusammenführung der künftig auf eine
Berufsarmee reduzierten Streitkräfte unter einen Oberbefehl
erreicht werden.
Dennoch agieren weiterhin ethnische Lobbies
gegen Reformen zur Bekämpfung der Korruption und der
organisierten Kriminalität, zum Umbau der Verwaltung wie zur
weiteren Öffnung des wirtschaftlichen Wettbewerbs und stellen
sich dem fortgesetzten Abbau im Krieg geschaffener und in der
Nachkriegszeit teils noch befestigter Parallelstrukturen entgegen,
die ihre jeweiligen Angehörigen mit Stellen und Posten
versorgen konnten.
Wer also verhindert die Schaffung eines
selbsttragenden Staates, der den Weg in die europäischen
Strukturen finden kann? Schuldige sind leicht ausgemacht: Die
ethnisch-nationalen Parteien, die Funktionäre staatlicher
Versorgungsbetriebe, die Armee- und Veteranenverbände, die
Gewerkschaften und Berufsorganisationen, der Klerus. Wie kann
Bosnien-Herzegowina unter solchen Voraussetzungen vom verhinderten
zum selbsttragenden Staat werden?
Ob die in Folge internationaler
Interventionen errichteten Protektoratsstrukturen die Entwicklung
demokratischer Gemeinwesen, rechtsstaatlicher Institutionen und
Mechanismen von "good governance" auf Dauer nicht ebenso behindern
wie fördern, kann in Bosnien-Herzegowina nun exemplarisch
studiert werden. Bergen ihre Effekte nicht die Gefahr, aus dem
verhinderten Staat einen "failed state" werden zu lassen? Nicht von
ungefähr nimmt Bosnien-Herzegowina auf dem im Sommer 2005
veröffentlichten "Failed State Index" des US-Magazins "Foreign
Policy" und des "Fund for Peace" auf einer Liste von 60
gefährdeten Staaten Rang 21 ein.
Die "Bonn Powers", in denen de facto die
Gewaltenteilung aufgehoben ist, sind auf internationaler wie
einheimischer Seite zum probaten Mittel der Umsetzung politischer
Agenden geworden. Sie ersetzen oder verkürzen den langatmigen
parlamentarischen Weg und entheben lokale Mandatsträger der
Verantwortung, unpopuläre Entscheidungen vertreten und
durchsetzen zu müssen. Jede so errungene Reform wird jedoch
mit einer Delegitimierung von Kompromissbildung und Konsensfindung
auf Seiten der Bevölkerung erkauft, die dem demokratischen
Prozess zunehmend skeptisch, wenn nicht ablehnend oder mit Apathie
begegnet.
Dies sind die Risiken und Nebenwirkungen, wie
sie in Protektoratsstrukturen zu finden sind. Seit längerem
wird daher etwa von der "European Stability Initiative" (ESI) die
Änderung des internationalen Mandats angemahnt. Jüngst
wurde dies in einem Bericht der "International Commission on the
Balkans" auf die Aufforderung zugespitzt, dass sich die
Europäische Union in Bosnien-Herzegowina verstärkt
für einen Prozess des "Member State-Building" einzusetzen hat.
Und nicht zuletzt der noch amtierende Hohe Repräsentant Lord
Paddy Ashdown sieht die Zeit gekommen, die internationale
Interventionsstruktur in Bosnien-Herzegowina in eine den
EU-Beitrittsprozess begleitende, assistierende Präsenz
umzuwandeln.
Wie weit sich Strukturen der
Abhängigkeit und ein undemokratischer, politisch verschlampter
Habitus ausprägen konnten, machen die abwehrenden Reaktionen
sowohl mancher lokaler Politiker als auch von Vertretern der
Zivilgesellschaft und der Medien deutlich, die in der Debatte
über die Änderung des internationalen Mandats vernehmbar
sind.
Die internationale, militärische und
polizeiliche Präsenz muss angesichts des Sicherheitsrisikos,
das organisierte Kriminalität, Korruption und rechstaatliche
Fragilität nach wie vor darstellen, den Emanzipationsprozess
stützen und absichern helfen. Auch in diesem Bereich ist die
EU zum wichtigsten internationalen Akteur im Land geworden. Ende
2004 übernahm sie den Oberbefehl über die noch etwa 7.000
in Bosnien-Herzegowina stationierten Soldaten; nur ein kleines
300-köpfiges NATO-Kontingent ist noch im Land verblieben. Die
UN-Mission beendete ihr Mandat bereits Ende 2002; eine
europäische Polizeimission (EUPM) ist seitdem an der
Weiterentwicklung der Strukturen innerer Sicherheit
beteiligt.
Das UNHCR hat die Verantwortung für den
Rück-kehrprozess bereits an lokale Autoritäten
übergeben und steht heute in kleiner Besetzung assistierend
zur Seite. Die OSZE legte 2002 die Durchführung von Wahlen in
einheimische Hände.
Hat sich im Zuge der letzten Jahre der Fokus
vom Krisenmanagement einer Postkonfliktgesellschaft auf den Aufbau
eines tragfähigen Staates verlagern können, so stellt
sich heute akut die Frage, wie unter den in Dayton geschaffenen,
politischen und institutionellen Voraussetzungen die EU-Integration
Bosnien-Herzegowinas zu leisten ist. Zweifelsohne kommt dem
Dayton-Abkommen, das in diesem November sein zehnjähriges
Jubiläum feiert, historische Bedeutung zu. Es konnte den Krieg
endgültig beenden sowie Rahmenbedingungen für die feste
Verankerung des Staatsgebildes im regionalen Umfeld schaffen. Die
schwerfällige und strukturell wie politisch behinderte
Entwicklung eines selbsttragenden, nach innen integrierten und in
den Außenbeziehungen stabilen Staates dreier Volksgruppen wird
heute jedoch wesentlich auf konstruktionelle Mängel in der
Dayton-Verfassung zurückgeführt.
Ihre Änderung und Anpassung an
Beitritts-Bedingungen der EU steht daher an und wird nicht zuletzt
vom Europäischen Parlament gefordert.
Die Gesellschaft Bosnien-Herzegowinas ist
heute entlang ethnischer Zugehörigkeit und mit ihr
einhergehender, divergierender Erfahrungen, Interpretationen der
Vergangenheit und Perspektiven auf Gegenwart und Zukunft tief
gespalten. Bislang konnte die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft
als Integrationsfaktor wirken. Dennoch lassen die
Beitrittsbedingungen die Spaltungen und Spannungen deutlich zu Tage
treten. Dies betrifft vor allem auch die Vorstellung vom
institutionellen Aufbau des Staates.
Eine Reform der öffentlichen Verwaltung
muss Bürokratie abbauen und Kosten senken, politische
Entscheidungsprozesse systematisch verschlanken, in erster Linie
aber ein effizientes, föderales System der politischen
Repräsentation und Verwaltung entwerfen. Ein solcher Entwurf
ist heute lokal zu meistern und zu verantworten. Beratendes
Engagement von außen wird hierbei nötig sein.
Die Chancen eines lokal getragenen
Verfassungsprozesses überwiegen seine Risiken. Ein solcher
Prozess, der von den politischen Parteien mitzutragen ist,
könnte im optimalen Fall einen Staat bilden, der es seinen
Bürgern als Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen
erlaubt, sich in ihm sicher, repräsentiert und anerkannt zu
fühlen.
Dr. Caroline Hornstein Tomiæ war von
2001 bis Juni 2005 Leiterin der Außenstelle Sarajevo der
Konrad-Adenauer-Stiftung.
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