"Wir brauchen viel Geduld"
Interview mit Generalleutnant Holger
Kammerhoff
Generalleutnant Holger Kammerhoff leitet seit
dem 16. September 2004 das Einsatzführungskommando der
Bundeswehr in der Henning-von-Tresckow-Kaserne in Geltow bei
Potsdam. Hier werden alle Einsätze der deutschen
Streitkräfte - ob im nationalen oder multinationalen Rahmen -
geplant und geführt.
Das Parlament: Ein Teil der Arbeit
eines Soldaten im Auslandseinsatz dient dem so genannten
Nation-Building eines zu befriedenden Landes. Das
Einsatzvorbereitungsprogramm für die Soldaten
berücksichtigt diesen Punkt gar nicht. Sind Soldaten
Naturtalente in Nation-Building?
Kammerhoff: Solche Schlagworte
übernehmen wir nicht, weil sie nicht spezifisch
militärisch sind. Wenn wir von Nation-Building reden, dann
sprechen wir von einem sehr komplexen Ansatz, den ich gerne
erweitern möchte auf Nation- und Peace-Building. Sie
müssen einander bedingen, denn wären Sicherheit und
Stabilität vorhanden, bräuchten wir kein Militär.
Staatliche und nichtstaatliche beziehungsweise zivile
Organisationen wären in diesem Fall geeigneter. Anders herum
gesagt: Wo keine Sicherheit vorhanden ist, können Sie weder
politische, wirtschaftliche, noch soziale Bedürfnisse
befriedigen. Dies sehen wir auf dem Balkan genaus wie in
Afghanistan.
Das Parlament: Ist für den
Prozess des Nation- und Peace-Building der einleitende
Militärschlag zwingend erforderlich?
Kammerhoff: Wir müssen
unterscheiden zwischen Frieden erzwingenden oder Frieden sichernden
Maßnahmen. Frieden sichernde Maßnahmen setzen immer das
Einverständnis der beteiligten Parteien voraus. Denn sie
dienen in der Regel der Absicherung eines Friedensabkommens oder
anderer Vereinbarungen, legitimiert durch ein UN-Mandat. Für
die Friedenserzwingung ist das Einverständnis der beteiligten
Parteien nicht zwingend erforderlich. In diesem Fall müssen
militärische Kräfte auf der Grundlage eines Mandats einen
raschen Erfolg gegen einen militärischen Gegner oder andere
organisiert militärische Kräfte herbeiführen, damit
in einem weiteren Ansatz Peace- und Nation-Building erfolgen
kann.
Das Parlament: Welche Kriterien sind
für Sie maßgeblich für den Prozess des
Nation-Building?
Kammerhoff: Ein Mandat der Vereinten
Nationen muss vorliegen und ein abgestimmter
zivil-militärischer Ansatz. Die Länder müssen bereit
sein, dieses Konzept mitzutragen - mit Ressourcen, Personal und
Material. Die erzielten Fortschritte des Mandats müssen
regelmäßig überprüft werden, ob sie sich
wohlmöglich verselbständigen und ob sie das jeweilige
Ziel verfolgen. Irgendwann sollen zivile Einrichtungen den
Wiederaufbau übernehmen und dabei lokale Arbeitskräfte
einbinden. Das Ziel muss sein, nur so viel Militär wie
nötig und so viel zivile Unterstützungsleistung wie
möglich einzusetzen. Im Sicherheitssektor etwa soll die im
Aufbau befindliche Polizei oder Armee Aufgaben übernehmen, die
anfangs das internationale Militär ausgeführt hat. Diese
Entwicklung verläuft parallel, im Laufe der Zeit kann dann die
Zahl der Soldaten reduziert werden.
Das Parlament: Worin bestehen die
Anfangsschwierigkeiten beim Nation-Building?
Kammerhoff: Nation-Building ist immer
dann ein Problem, wenn Militär zwischen den Parteien steht.
Nehmen Sie den Balkan, wo wir verschiedene Ethnien haben, die
zusammengeführt werden müssen und wo es darum geht,
Flüchtlinge zurückzuführen. Hier zeigt sich doch
immer wieder, dass man Frieden nicht gegen den Willen der
Bevölkerung erzwingen kann. Man kann auch nicht per Befehl
oder militärischer Gewalt erzwingen, dass der Hass auf eine
andere Ethnie beendet wird und somit Maßnahmen der
Rücksiedelung störungsfrei erfolgen
können.
Das Parlament: Ist Nation-Building ein
Akt der politischen Entmündigung der Einheimischen?
Kammerhoff: Ganz und gar nicht. Sie
ist ein Versuch, die Lösung in einer Krisenregion dergestalt
in den Griff zu kriegen, dass man sowohl mit der Knappheit an
finanziellen und personellen Ressourcen fertig wird als auch mit
den Wiederaufbaubedürfnissen in einer Region in einem
integriert zivil-militärischen Vorgehen. Dieses ist keine
politische Entmündigung. Ganz im Gegenteil. Die
verantwortlichen örtlichen Politiker werden in einem
Demokratisierungsprozess in die Lage versetzt, ihre Ziele zu
verwirklichen. Bestes Beispiel hierfür ist Afghanistan, wo
letzten Oktober erstmalig Wahlen stattgefunden haben und sich 10,5
Millionen Wähler registrieren lassen konnten. Heute stehen wir
erneut vor Wahlen [Parlamentswahlen am 18. September] und haben die
Zuversicht, dass auch diese ein Erfolg werden. Dafür wird die
internationale Militärpräsenz und das afghanische
Militär zusammen mit der Polizei ein sicheres Umfeld
schaffen.
Das Parlament: Inwiefern wird der
Soldat im Alltag am Prozess des Nation- und Peace-Building
beteiligt?
Kammerhoff: Jeder Militäreinsatz
ist das Ergebnis einer Vereinbarung, die zum Wiederaufbau
demokratischer, sozialer, wirtschaftlicher und rechtsstaatlicher
Strukturen beitragen soll. Dabei ist der Soldat auch
Ansprechpartner für die Bevölkerung die lokalen
Hauptquartiere und die Gouverneure beziehungsweise
Bürgermeister.
Das Parlament: Oder er zeigt
Präsenz zum Beispiel bei Patrouillefahrten...
Kammerhoff: Ja. Jeder Soldat ist
sozusagen immer auch Botschafter seines Landes. Er vertritt
beispielsweise den Rechtsstaat Deutschland, er vertritt Demokratie,
er setzt sich dafür ein, dass Minderheitenrechte beachtet
werden. Darüber hinaus sind es vorwiegend Vorgesetzte, die in
der Öffentlichkeit in Verhandlungen oder Gesprächen
auftreten an Konferenzen teilnehmen, die Koordinierung und
Abstimmung von lokalen Vorhaben wahrnehmen sowie die Durchsetzung
überwachen. In der Abstimmung oder auch in der Durchsetzung
entsprechender Vorhaben, sowie in der Erfüllung der
Wünsche, die die lokale Seite vorbringt.
Das Parlament: Muss der einzelne
Soldat ein großes Rechtsverständnis
mitbringen?
Kammerhoff: Das gehört mit zur
Vorbereitung auf den Einsatz. Die sieht so aus: Neben einer
Basisausbildung in individuellen Grundfertigkeiten gehören
eine Sanitätsausbildung und eine Einsatz bezogene
Gefechtsausbildung dazu. Es schließt sich eine
Aufbauausbildung an, in der die erworbenen Kenntnisse vertieft
werden. Anhand der "Rules of Engagement", die auf das jeweilige
Einsatzgebiet ausgerichtet werden, gewinnt der Soldat
Verhaltenssicherheit. In einer Zusatzausbildung wird er dann auf
den speziellen Einsatz vorbereitet.
Das Parlament: Der Soldat ist heute
nicht mehr ausschließlich der kämpfende Krieger, sondern
hat neue Aufgaben zu erfüllen. Wie würden Sie den Wandel
skizzieren?
Kammerhoff: Wir mussten uns von der
alten Bundeswehr verabschieden, die nur auf die Landesverteidigung
an der innerdeutschen Grenze ausgerichtet war. Wir mussten lernen,
dass es nicht nur um Verlegung der Kräfte an den Einsatzort
geht, sondern dass Durchhaltefähigkeit erforderlich ist. In
erster Linie gehen die Soldaten ja in die Krisengebiete, weil es
dort gefährlich ist und weil sie als Kämpfer ausgebildet
worden sind und dort gebraucht werden. Also zunächst Aufgaben
wahrnehmen, die andere noch nicht leisten können. Im Laufe der
Zeit kommt der zweite, neue Aspekt hinzu, der Nation- und
Peace-Building. Dies kann auch parallel verlaufen, aber wir
können auch immer wieder zum ersten Schritt zurückfallen.
Ich erinnere an die Kosovo-Unruhen im vergangenen Jahr.
Das Parlament: Bleiben wir bei den
blutigen Unruhen im Kosovo zwischen Kosovo-Albanern und Serben im
vergangenen Jahr. Hat der Mob den Nation-Building-Prozess wieder
zurückgeworfen?
Kammerhoff: Zu dem Zeitpunkt hatten
wir im Kosovo bereits NATO-Kräfte abgebaut. Die Unruhen
zwangen uns dann, sie wieder in Felder und Enklaven zu schicken, in
denen die Polizei eigentlich schon Sicherheitsaufgaben
übernommen hatte. Aus Sicht der Serben ist die Nation-Building
wohl gestört worden, aus Sicht der Kosovo-Albaner, die einen
Anteil von 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen, nicht. Man
hat nur festgestellt, es war ein Rückschlag für die
Wünsche der Kosovo-Albaner. Allerdings setze ich da heute ein
Fragezeichen. Denn lange Zeit hat sich für sie und ihre
Autonomiebestrebungen wenig gerührt. Vielleicht haben sie
durch die Unruhen doch das Ganze in Bewegung gesetzt. Heute stehen
wir ja kurz vor der Vorstellung eines Berichts, den der
Sonderbotschafter der Vereinten Nationen herausgeben wird. Dieser
wird dann Antworten geben.
Das Parlament: Es geht um die
Klärung der Statusfrage in der ehemaligen jugoslawischen
Provinz...
Kammerhoff: Ja. Die politisch
Verantwortlichen kamen nach den Unruhen zur Erkenntnis: So etwas
schadet uns. Bleibt zu hoffen, egal wie der Bericht des
Sonderbotschafters ausfallen wird, dass diese Einsicht Bestand
hat.
Das Parlament: Die Bundeswehr muss
sich in einem Interessengeflecht aus NATO, UNO und EU bewegen. Die
Konsensfindung ist langwierig. Haben Sie gelernt, in anderen
zeitlichen Dimensionen zu denken?
Kammerhoff: Unser Auftrag leitet sich
aus dem Mandat ab. Unsere Beobachtung ist, für Nation- und
Peace-Building brauchen wir einen langen Atem und viel Geduld. Es
bedarf sicherlich einer Generation, die einmal unter diesen
demokratisch-rechtstaatlichen, prosperierenden wirtschaftlichen
Verhältnissen gelebt hat, ehe wir von einem erfolgreichen
Wiederaufbau sprechen können.
Das Parlament: Herr General, wir
danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Almut Lüder
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