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Dominik Johnson
Kein Staat - nirgends! Warum auch?
Zerfallende Strukturen in Afrika und die
Legenden des weißen Mannes
Als die europäischen Eroberer Ende des 19. Jahrhunderts
nach Afrika kamen, glaubten sie einen leeren Kontinent vorzufinden.
Europa und die westliche Zivilisation sollte Modernität und
Staatlichkeit nach Afrika tragen - erst als Einrichtung der
Weißen, später progressiv auf "aufgeklärte"
Afrikaner ausgeweitet. Bis heute gründet ein Großteil des
europäischen Diskurses gegenüber Afrika und dem afrika-
nischen Phänomen des Staatszerfalls auf diesem Muster, wonach
das Staatswesen eigentlich für Afrikaner etwas Fremdes sei,
das man entweder mit Entwick-lungshilfe - schon das Wort ist
verräterisch - verankert oder mit militärischer Gewalt
implantiert. Wenn demgegenüber Länder wie Somalia oder
Liberia zeitweilig oder dauerhaft ihren Staat verlieren, gilt das
als Rückfall in einen bedauernswerten Urzustand, der die
Menschen dieser Länder aus der modernen Welt
ausschließt.
Nichts von all dem ist wahr. Als Afrika die ersten
europäischen Händler und Eroberer empfing, kamen diese
als Gäste an Königshöfe und boten ihre
Protektoratsverträge etablierten Herrschern an. Staaten mit
Verfassungen, politischen Ordnungen, internen Machtkämpfen und
äußeren Allianzen kannte Afrika genauso lange wie Europa:
Eine der ersten geschriebenen Verfassungen der Welt entstand 1236
im Mandingo-Reich des heutigen Mali, kurz nach der Magna Charta in
England. Mali war damals mit der Stadt Timbuktu eines der
wichtigsten Länder der Erde und Quelle unermesslicher
Reichtümer für das mittelalterliche Europa. Was die
Europäer Ende des 19. Jahrhunderts nach Afrika brachten, war
nicht Staatlichkeit, sondern dessen Abschaffung: Sie setzten die
existierenden politischen Systeme per Federstrich außer Kraft
und gründeten rassistische, ausbeuterische
Militärverwaltungen, in denen die Bevölkerung nur noch
als Arbeitskraft für die Exportwirtschaft oder als
Steuerzahler für die Fremdherrschaft einen Wert hatte.
Als die koloniale Epoche in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren des
20. Jahrhunderts zu Ende ging, wurden nicht etwa die vor der
Eroberung bestehenden afrikanischen Staaten wiederhergestellt, an
die sich so mancher Bewohner zumindest aus Erzählungen noch
gut erinnerte. Stattdessen wurden die kolonialen
Verwaltungseinheiten zu Staaten erklärt und ihre Strukturen zu
den Staatsstrukturen des unabhängigen Afrika. So entstanden
auf der Weltkarte lauter Länder mit Phantasienamen, von denen
kein Afrikaner je etwas gehört hatte. Aber sie hatten Sitze in
den Vereinten Nationen, Botschaften in der ganzen Welt und
Anerkennung bei Banken und Geberorganisationen; sie nahmen
ausländische Kredite und Entwicklungshilfen entgegen,
schlossen bindende Verträge mit Investoren und vertraten ihre
Bürger gegenüber der Welt, ob die es wollten oder nicht.
Kein Wunder, dass das einzige, was in vielen dieser Länder
immer funktionierte, das Militär war - das intakteste Erbe der
kolonialen Zeit.
Das bevölkerungsmäßig größte Land
Afrikas, Nigeria, verdankt seinen Namen einer Laune der Ehefrau des
britischen Eroberers dieses Gebietes vor hundert Jahren, Frederick
Lugard. Bis heute sehen sich Nigerianer in der eigentlichen,
persönlichen Identität nicht in erster Linie als
Nigerianer, sondern als Angehörige ihrer Volksgruppen -
Yoruba, ein kulturell unermesslich reiches Volk mit einer langen
Geschichte; Haussa, Erben der mächtigsten
Savannenkönigreiche des Kontinents; Igbo, Angehörige
einer komplexen Gesellschaft mit dezentralisiertem Staatswesen und
einer ausgeprägten Vorherrschaft im regionalen Handel; oder
noch andere, kleinere Gruppen.
Macht und Prestige
"Nigeria" gibt es nur in zwei Bereichen des Lebens - von
Visa-Anträgen für das Ausland abgesehen: Zwangsdienst im
Militär oder im "sozialen Dienst", in dem jeder Bürger
des Landes aus seiner Heimatregion in einen anderen Landesteil
verschickt wird und gemeinnützige Arbeit leistet; und in der
Ölindustrie, der Goldesel des Landes, der nach den Regeln der
globalisierten Wirtschaft arbeiten muss. Aber Militär und
Öl sind immer nur Fassade. Wer dort Posten hat, kann um so
ungenierter in der eigentlichen Gesellschaft Macht und Prestige
ausüben - und das allein zählt. Kein Wunder, dass Nigeria
als Dauerkandidat für Staatszerfall gilt. Wenn einmal weder
militärische Macht noch Zugriff auf Ölreichtum die
soziale Stellung mehr sichern sollten, sind die Tage Nigerias
gezählt. Aber es würde lediglich bedeuten, dass die
Nigerianer auf ihre wirkliche Geschichte zurückgreifen.
Versuche, diese Tendenzen durch Rückgriff auf eine neue
"nationale Identität" zu konterkarieren, sind meist noch
bizarrer. Man stelle sich vor, nach dem Zweiten Weltkrieg
wären die Besatzungszonen in Deutschland allesamt zu eigenen
Staaten geworden, und es gäbe als Wirtschaftsmotor der Region
ein unabhängiges Nordrhein-Westfalen, das dann irgendwann die
"fälische" Identität zur Nationalkultur ausrufen
würde und jedem vermeintlichen Nicht-Falen das Daseinsrecht
absprechen würde. Genau so "funktioniert" die moderne
Elfenbeinküste, eine von vielen Provinzen des einstigen
Französisch-Westafrika, die 1960 alle plötzlich
eigenständige Staaten wurden. Die Elite in Abidjan hat die
"Ivorität" als sinnstiftend deklariert und hält alle
Bewohner, deren Vorfahren aus anderen Provinzen des Kolonialreiches
kommen, für suspekt - dies ist die Wurzel des andauernden
Bürgerkrieges, der dieses wirtschaftlich wichtigste Land des
frankophonen Afrika zerreißt.
Unterjochung der Bevölkerung
Das benachbarte Liberia erlebte ein Jahrzehnt des
Staatszerfalls, bis es jetzt einigermaßen zur Ruhe fand. Schon
der Name "Liberia" geht auf das imperialistische Bestreben von
Missionaren aus den USA im frühen 19. Jahrhundert zurück,
freigelassene schwarze Sklaven in ihrer vermeintlichen
afrikanischen Heimat als "Freistaat" anzusiedeln.
Die Rücksiedler stammten zwar gar nicht von der
"Pfefferküste", wie der unwirtliche Landstrich damals im 19.
Jahrhundert von Händlern genannt wurde. Aber sie durften dort
trotzdem einen eigenen Staat gründen und unterjochten die
einheimische Bevölkerung gnadenlos. Kein Wunder, dass der
Sturz der Herrschaft dieser "Ameriko-Liberianer" 1980 Auftakt
für eine Epoche der Kriege wurde. Ein Nationalgefühl
bildet sich dort höchstens als gemeinsame Erfahrung der
Entbehrung und des Leidens heraus, ähnlich wie in anderen
leidgeprüften Ländern wie dem Kongo.
Somalia, wo es seit 1992 keinen Staat mehr gibt, macht besonders
gut deutlich, worum es beim Verschwinden des Staates geht. Als
eines der wenigen Länder Afrikas ist es ethnisch homogen - die
Somalis reklamieren sogar noch Dschibuti sowie Teile
Äthiopiens und Kenias zu ihrer Nation dazu. Aber politisch
homogen war die somalische Nomadengesellschaft mit ihrer
dezentralen, auf Ausgleich zwischen Familienvätern
gegründeten Struktur nie.
Der sozialistische Militärherrscher Siad Barre versuchte ab
1975, sein Land in die Moderne zu prügeln, mit massiver
Militärhilfe erst aus der Sowjetunion und dann aus den USA,
und führte gnadenlos Krieg gegen seine inneren Gegner. Als
diese sich zusammentaten und Barre 1991 stürzten, fegten sie
damit auch den verhassten Zentralstaat weg, der immer nur als
Untredrückungsinstrument funktioniert hatte. Auf einen neuen
Staat einigten sie sich nicht - Somalia wurde zum permanenten
Bürgerkriegsland. Aber inmitten dieses Kriegszustands
entwickelten die Somalis das modernste Banken- und
Telekommunikationssystem Afrikas: Sie fügen sich ganz ohne
Staat und damit viel freier in die moderne globalisierte Welt
ein.
All diese Beispiele zeigen, dass das Phänomen Staatszerfall
in Afrika nicht einfach zu deuten ist. Hinter jedem Auftreten des
Staatszerfalls verbirgt sich immer die Frage: Wozu ist der Staat,
der da zerfällt, eigentlich da? Hilft er den Bürgern oder
hindert er ihr Fortkommen? Ist letzteres der Fall, dann ist der
Zerfall ein Akt der Befreiung.
Mit der Bereitschaft, vorgefundene Strukturen bedenkenlos
über Bord zu werfen, wenn sie dem Fortkommen der Gesellschaft
hinderlich sind, bieten gerade die im Staatszerfall befindlichen
Länder Afrikas dem Rest der Welt ein Vorbild. Durch
prozedurale Bedenken lassen sich die Leute dabei nicht aufhalten.
Nirgendwo sonst auf der Welt ist die Frage, was der Gesellschaft
nützt und was ihr schadet, für so viele Menschen eine so
unmittelbare Überlebensfrage wie in den meisten Teilen Afrikas
- und auch der Staat muss sich dieser Frage stellen.
Dominik Johnson ist Auslands-Redakteur der "tageszeitung" (taz)
in Berlin.
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