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Douglas H. Johnson
Wo ist der "neue Sudan"?
Ein Land zerrissen von Rassismus und
Dogmatismus
Erst 50 Jahre nach der Unabhängigkeit von
Ägypten und Großbritannien beginnt im Sudan jetzt erneut
der Prozess des Nation-Building. Das am 9. Januar 2005 in Nairobi
unterzeichnete "Umfassende Friedensabkommen" beendete den 21 Jahre
währenden Bürgerkrieg zwischen der Regierung in Khartum
und der Volksbefreiungsbewegung des Sudan (SPLM/A). Es schuf den
Rahmen für die Bildung einer neuen nationalen Regierung sowie
neuer und stärkerer Regionalregierungen im Süden, in den
Nuba-Bergen und in dem an Äthiopien grenzenden Bundesstaat
Blauer Nil. Das umfassende Friedensabkommen vermochte indessen
nicht, den Konflikt in Darfur sowie die Unruhen im Osten des Sudan
zu beenden und das Problem der Beteiligung anderer
Oppositionsbewegungen an der neuen Regierung zu lösen.
Mit mehr als zweieinhalb Millionen
Quadratkilometern - etwa die Größe Westeuropas - ist der
Sudan das größte Land Afrikas, erstreckt sich von
Wüsten im Norden bis zum Regenwald im Süden. Allerdings
leben nur etwa 35,5 Millionen Menschen (Stand: 1999) im Sudan, ein
Land, das nur auf der Landkarte als Staat existiert. Der Sudan ist
multi-ethnisch, multi-kulturell und multi-religiös. Radikaler
Islam stößt auf Christentum und animistische Religionen
mit aller Schärfe. Obwohl der Sudan als arabisches Land gilt,
liegt der Anteil der arabisch-stämmigen Bevölkerung bei
lediglich 39 Prozent. Der Anteil der Schwarzafrikaner liegt dagegen
bei etwa 49 Prozent, während andere nicht
arabisch-stämmige Gruppen - die Beja im Osten und die Nubier
im Norden - etwa sechs beziehungsweise drei Prozent der
Bevölkerung ausmachen.
Die Vorherrschaft des Islam im Sudan ist
weniger ausgeprägt als es arabische und westliche Medien oft
suggerieren. Die Zahl der Christen ist in den letzten Jahrzehnten
trotz Zwangsislamisierung ständig gestiegen, und die
islamische Gemeinschaft ist alles andere als geeint oder
einheitlich. Die Aufgabe der Verknüpfung dieser Vielzahl von
Gruppen zu einer Nation erfordert nicht nur eine in hohem Maße
einigende nationale Ideologie, sondern auch staatliche Strukturen
und wirtschaftspolitische Maßnahmen, die eine
gleichmäßige und gerechte Verteilung von politischer
Macht und Wohlstand gewährleisten. Die politische Führung
des Sudan ist jedoch seit der Unabhängigkeit 1955 in allen
drei Bereichen gescheitert. Die Gründe für dieses
Scheitern liegen zum Teil in den Ursprüngen der
Unabhängigkeitsbewegung selbst, aber hauptsächlich in der
Haltung der herrschenden muslimischen Elite des zentralen Niltals
gegenüber anderen Volksgruppen und Religionen.
Das wichtigste nationale Projekt der ersten
selbständigen Regierungen des Sudan bestand in der
Förderung einer von Arabismus und Islam flankierten nationalen
Identität und Fortsetzung der Entwicklungspriorität aus
der Kolonialzeit, die die Konzentration von Investitionen im
zentralen Niltal vorsah. Diesem einseitigen nationalen Projekt,
dessen Ziel nicht die Einigung, sondern die Spaltung der
verschiedenen Regionen und Völker des Sudan war, wurde von
Anfang an Widerstand entgegen gebracht. Zunächst im nicht
muslimischen, afrikanischen Süden, der ein Viertel des
gesamten Staatsgebiets umfasst und in dem etwa ein Drittel der
Gesamtbevölkerung beheimatet ist, aber auch seitens der
afrikanisch-islamischen Bevölkerung im äußersten
Westen und Osten des Sudan.
Die Zwangsislamisierung stieß im
Süden des Landes auf den größten Widerstand, da dort
die Mehrheit der Bevölkerung traditionellen Stammesreligionen
anhing und die gebildete Elite sich hauptsächlich zum
Christentum bekannte. Dies trug teilweise zum Aufflammen eines
Bürgerkriegs in den 1960er-Jahren bei, als eine Reihe von
Sezessionsbewegungen gegen die Regierungen in Khartum kämpfte
und die Unabhängigkeit des Südens erreichen wollte. Es
kam zu zahlreichen regionalen Bürgerkriegen und
Staatsstreichen in Khartum, da sich auch die afrikanischen Muslime
gegen die arabische Elite im zentralen Niltal auflehnte. Sie
lehnten die wesentlich intolerantere und militante Variante des
Islam im nördlichen Sudan ab. Ein erneuter Putsch im Jahr 1989
spülte dann den Brigadegeneral Omar Bashir an die Macht und
bereitete allen Friedenshoffnungen endgültig ein Ende. Denn
Bashir forderte zum Dschihad - zum Heiligen Krieg - gegen seine
Feinde auf, darunter auch gegen die gemäßigten
schwarzafrikanischen Muslime.
Die Frage der Volkszugehörigkeit im
Sudan bezieht sich nicht auf die Hautfarbe. Sie wird vielmehr durch
die Mentalität sowie Ideologie und Abstammung definiert. Nur
dadurch ist der Konflikt in der Provinz Darfur zu erklären:
Darfurs Bewohner, im naiven Glauben an das Versprechen der
Gleichberechtigung aller Muslime seitens Bashir, stellten
irgendwann fest, dass dies reine Worthülsen waren. Bereits vor
dem "Aufstand" im Februar 2003, der die internationale
Aufmerksamkeit erregte, waren einige Dörfer und Städte
vor Ort in die Kämpfe verwickelt. Es ging unter anderem um
umstrittene Landansprüche und lokale Streitigkeiten, aber in
zunehmendem Maße um die Art und Weise, in der die Regierung in
Khartum die Konflikte vor Ort deutete und sich einmischte. Sie
erklärte die Rebellen einfach zu "Ungläubigen" und
ließ in Darfur verbreiten, dass schwarze Menschen keine echten
Muslime seien.
Ein islamischer Staat, der gegen seine
eigenen muslimischen Bürger Krieg führt, ist ein für
allemal kompromittiert. Auch wenn der islamische Staat im Sudan
überlebt, wird es wohl keine sudanesische Nation an sich mehr
geben können. Rassismus unterminierte das erste nationale
Projekt der 50er- und 60er-Jahre. Doppelzüngigkeit und Gier
bereiteten dem zweiten nationalen Projekt Nimeiris ein Ende.
Dogmatismus und Rassismus zerstörten am Ende des 20.
Jahrhunderts das dritte islamisch-nationale Projekt.
Zurzeit gibt es drei nationale Visionen, die
im Wettbewerb um die Kontrolle im Sudan stehen: die von der
südlichen SPLM und einigen nördlichen Oppositionsgruppen
befürwortete säkulare, dezentralisierte Demokratie; das
Fortbestehen der bereits vorhandenen aggressiven und eng gefassten
islamistischen Autokratie oder die im zentralen Niltal praktizierte
gemäßigt islamische Demokratie.
Das Friedensabkommen stellt die Bedeutung der
Selbstbestimmung in den Vordergrund: Im Süden wurde darunter
lange Zeit die Sezession vom Norden verstanden. Im Sprachgebrauch
des einstigen SPLM-Führers John Garang handelt es sich bei
Selbstbestimmung jedoch um einen Prozess und nicht um ein
Endresultat. Wenn der von ihm angestrebte "Neue Sudan"
tatsächlich innerhalb der vorgesehenen Übergangsphase von
sechs Jahren Wirklichkeit werden würde, hätte der
Süden seine Ziele erreicht, und es gäbe keinen Grund mehr
für eine Sezession. Wenn aber die Parteien im Norden sich
weigern, diesen "Neuen Sudan" bereitwillig anzunehmen, bleibt dem
Süden nichts anderes übrig, als sich vom Norden
loszusagen. Insofern hat nicht nur der Süden, sondern auch der
Norden jetzt die Wahl, was er lieber hätte: einen geeinten
multi-religiösen Sudan oder einen islamischen
Nord-Staat.
Zuvor aber wird die neue nationale Regierung
zu entscheiden haben, ob sie den derzeit aufständischen
beziehungsweise sich am Rande der Rebellion befindlichen Regionen
ähnliche politische und wirtschaftliche Befugnisse
einräumen will. Wenn sie dies tut, wird die Stärke der
nationalen Regierung gegenüber den Regionen weiter
geschwächt und der islamische Staat
verwässert.
Der Tod John Garangs bei einem
Hubschrauberabsturz nur drei Wochen nach dessen Einführung in
das Amt des ersten Vizepräsidenten des Sudan gefährdet
die Zukunft des Friedensabkommens. Sein Nachfolger, Salva Kiir
Mayardit, wird von vielen neutralen Beobachtern als ein weniger
charismatischer politischer Führer beschrieben. Allerdings
diente Salva dem militärischen Geheimdienst des Sudan, bevor
er sich an der Gründung der SPLM/A beteiligte, und er ist mit
der Mentalität seiner Gegner/Partner im Norden bestens
vertraut. Außerdem genießt er im Süden einen
hervorragenden Ruf und ist besser geeignet, die Querelen unter den
einzelnen Volksgruppen dort zu überwinden, als Garang dies
vermochte. Außerdem zeigt Salva die Fähigkeit, viele
unterschiedliche Politiker einzubinden, die Garang vor den Kopf
gestoßen hatte. Salva könnte noch alle
überraschen.
Das Resultat des Nation-Building aber
hängt nicht nur von einem Mann ab. Wenn die SPLM
tatsächlich politische Bündnisse mit den unzufriedenen
Regionen des Nordens herstellen und bewahren will, wird sie rasch
den Wandel von einer Guerillabewegung zu einer politischen Partei
vollziehen müssen. Sie wird es nicht schaffen, sich zu wandeln
und gleichzeitig den Süden zu regieren.
Die SPLM muss einen Weg finden, die
früheren Gegner im Süden und Norden des Landes
einzubeziehen. Sie wird mit ihnen zusammenarbeiten und entscheiden
müssen, welche Teile ihres Programms sie bereit ist,
aufzugeben, um ihre hauptsächlichen Ziele zu sichern.
Außerdem wird sie in den kommenden sechs Jahren entscheiden
müssen, ob die Einheit des Sudan eine realistische und
attraktive Perspektive ist oder ob die Unabhängigkeit des
Südens doch der beste Weg wäre, um den Ansprüchen
ihrer Hauptanhängerschaft gerecht zu werden.
Übersetzung des Textes aus dem
Englischen durch den Sprachendienst des Deutschen
Bundestages.
Douglas H. Johnson ist ein international anerkannter
Sudan-Experte und lebt in Oxford, England. Er ist Autor des Buches:
"The Root Causes of Sudan's Civil Wars", Oxford
2003.
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