Jonas Böttler
Milchpulver und Pulverdampf
Die Bedeutung von
Nichtregierungsorganisationen
Nichtregierungsorganisationen (NGO) spielen in
den Nation-Building-Konzepten der internationalen
Staatengemeinschaft eine zentrale Rolle. Für viele sind sie
die Hoffnungsträger transnationaler Demokratisierungsprozesse
schlechthin. Doch die Folgen der NGO-Aktivitäten sind nicht
immer nur positiv zu bewerten. Manche Risiken werden ausgeblendet.
Insbesondere das Verhältnis zwischen zivilen und
militärischen Aufbauhelfern ist immer wieder mit
Schwierigkeiten behaftet. Dabei lässt sich das Ziel des
nachhaltigen Staatsaufbaus nur gemeinsam erreichen.
NGOs haben in den 90er-Jahren einen
beispiellosen Bedeutungszuwachs erfahren. Während sie sich
früher zuerst im Bereich der unmittelbaren Katastrophenhilfe
engagierten, werden sie mittlerweile von der internationalen
Gemeinschaft auch verstärkt in Nation-Building-Projekte
eingebunden.
Weltweit existieren aktuell über 25.000
verschiedene dieser Organisationen. Die Bandbreite reicht dabei von
der kleinen NGO, die nur mit wenigen Freiwilligen und sehr
bescheidenen Mitteln arbeitet, bis zu den riesigen Organisationen
wie beispielsweise dem Internationalen Roten Kreuz, deren
Jahresbudget das mancher kleiner Staaten
übersteigt.
Was diese Organisationen jedoch gemeinsam
haben, ist ihre Unabhängigkeit. Das bedeutet, sie suchen sich
ihre Arbeitsfelder frei aus und sind dabei an keine staatliche oder
überstaatliche Autorität gebunden. Eine weitere
Gemeinsamkeit fast aller NGOs ist die Selbstverpflichtung an die
humanitären Ideale, was bedeutet, dass unabhängig von
Rasse, Geschlecht, Religionszugehörigkeit, politischer
Einstellung usw. Hilfe geleistet wird.
Das klingt auf den ersten Blick edel und in
der Tat gibt es verschiedene Beispiele, wo das Engagement der NGOs
positiven Einfluß auf Entwicklungsprozesse hatte.
Dementsprechend sind auch Unabhängigkeit und Unparteilichkeit
die "heiligen Kühe" der NGOs, die von ihren Protagonisten als
der Königsweg gepriesen und entsprechend verteidigt werden.
Eben genau diese Einstellung kann aber auch äußerst
kontraproduktiv sein, weshalb es ebenfalls sehr kritische Stimmen
über die Rolle von NGOs in Nation-Building-Einsätzen
gibt.
Edward Luttwak vom Center for Strategic and
International Studies in Washington, D. C. ist ein
scharfzüngiger Kritiker der Arbeit von NGOs. Bereits im Herbst
2001 äußerte er die Befürchtung: "Wenn man dem
gewohnten Sammelsurium konkurrierender NGOs erlauben würde,
über Afghanistan herzufallen und das Land, wie kürzlich
im Kosovo geschehen, mit ihrem bekannten Gemisch aus teils
nützlichen, teils nutzlosen oder gar kontraproduktiven
Hilfsleistungen zu überziehen, könnten die Folgen
verheerend sein."
Ist eine solch pessimistische Einstellung zur
Arbeit der NGOs gerechtigfertigt? Immerhin waren NGOs schon lange
vor 2001 in Afghanistan aktiv, sie operieren auch sonst an Orten,
die auf den "Radarschirmen" von Außenministern oder der
Weltöffentlichkeit gar nicht oder nur höchst selten
auftauchen. Sie haben in vielen Fällen durch ihr langfristiges
Engagement vor Ort das Vertrauen der regionalen Bevölkerung
gewonnen und profunde Kenntnisse über die Besonderheiten der
lokalen Situation erlangt. Zusätzlich sind sie durch ihre
humanitäre Ausrichtung bestrebt, den Menschen bestmöglich
zu helfen. Sind das nicht die besten Voraussetzungen für eine
nachhaltige und friedliche Entwicklung?
Leider nicht immer. "Das Gegenteil von gut
ist gut gemeint", weiß der Volksmund, und in der Tat gilt dies
leider auch bisweilen für das vielfältige Engagement der
NGOs. Ein Problem liegt alleine in ihrer großen Zahl. So
helfen in Afghanistan derzeit mehr als 1.200 Organisationen. Wie
sich herausstellte, ist eine sinnvolle Koordinierung aller
Maßnahmen dieser NGOs unmöglich, denn nahezu jede
Organisation hat ihre eigene Agenda und auch Interessen und ist
peinlich auf die Erhaltung der eigenen Unabhängigkeit
bedacht.
Trotzdem gelingt es den NGOs,
beträchtliche Mittel für ihre Arbeit zu gewinnen. Einer
Berechung der afghanischen Übergangsregierung zufolge wurden
von den zwischen Januar 2002 und März 2003 für
Afghanistan bestimmten 1,84 Milliarden US-Dollar etwa 24 Prozent an
NGOs gegeben, während die afghanische Regierung direkt nur
etwa über 16 Prozent dieser Summe bestimmen konnte.
Vor dem Hintergrund weltweit verbreiteter
Korruption innerhalb der lokalen Eliten scheint die Vergabe von
Mitteln an weniger korruptionsanfällige NGOs durchaus
sinnvoll. Das führt dann allerdings dazu, dass die
Leistungsfähigkeit der NGOs oft die des schwachen Staates
beträchtlich übersteigt. So werden in Afghanistan zum
Beispiel etwa 70 Prozent der Gesundheitsversorgung von
internationalen NGOs geleistet. Das ist zunächst eine
eindrucksvolle Zahl. Man muss sich aber darüber im Klaren
sein, dass dies graviende Konsequenzen für das Nation-Building
haben kann. Ein Staat, der grundlegende Bedürfnisse seiner
Bevölkerung nach Sicherheit, Ernährung, Unterkunft,
Bildung und Gesundheit nicht selbst befriedigen kann, besitzt bei
seinen Bürgern logischerweise kein hohes Ansehen
beziehungsweise Akzeptanz.
Gleichzeitig haben die NGOs aber auch ein
existenzielles Interesse daran, die geleistete Arbeit mit viel
Publicity zu verkaufen. Da sie von privaten Zuwendungen
abhängig sind, müssen sie bei ihrer wichtigsten Klientel,
den westlichen Spendern und Förderern, Sichtbarkeit und
Aufmerksamkeit herstellen, um finanziell überleben zu
können. Dementsprechend haben sie kein Interesse daran, ihren
Anteil an der geleisteten Arbeit im Lande klein- und den des
Staates großzureden.
Somit können NGOs trotz allen guten
Willens und des bewundernswerten Engagements der Kräfte vor
Ort letzten Endes in ihrer Wirkung kontraproduktiv sein, weil sie
dem Staat wichtige Quellen der eigenen Legitimation entziehen. So
bleibt das Problem, einen Staat neu- oder wiederaufbauen zu wollen,
gleichzeitig aber NGOs mit der Durchführung staatlicher
Aufgaben zu betrauen, ein kaum zu lösender
Widerspruch.
NGOs bringen Ressourcen vor Ort, die
natürlich auch für die Konfliktparteien äußerst
interessant sind. Das führt dazu, dass NGOs
regelmäßig Erpressungen ausgesetzt sind, dass
Hilfskonvois an den diversen Checkpoint "Wegezoll" entrichten
müssen und darüber hinaus die Flüchtlingscamps der
NGOs in vielen Fällen ideale Bedingungen für die
Rekrutierung von Kämpfernachwuchs bieten.
Auf diese Weise tragen die NGOs direkt zur
Unterstützung der Konfliktparteien und damit zur
Verlängerung des Konfliktes bei. Damit schüren sie das
Feuer, dessen Folgen sie gleichzeitig zu bekämpfen bemüht
sind. Somit wird deutlich, dass auch die humanitäre Hilfe, die
für viele NGOs ein identitätsstiftendes Merkmal ist,
politisch und militärisch entscheidende Dimensionen annimmt
und gar nicht neutral sein kann.
So wäre beispielsweise der
Völkermord in Ruanda 1994 in der bekannten Form ohne das Zutun
der NGOs nicht möglich gewesen. Erst die von NGOs betriebenen
Flüchtlingscamps entlang der Grenze von Zaire, in denen etwa
eine Million Hutus lebten, ermöglichten es verbrecherischen
Hutu-Führern, diese als perfekte Rekrutierungs- und
Trainingsbasis für ihre Milizen zu nutzen, die später
dann die unvorstellbaren Grausamkeiten an der
Tutsi-Bevölkerung begangen.
Vor diesem Hintergrund ist es recht
verwunderlich, dass sehr viele NGOs bis vor kurzer Zeit die
Kooperation mit westlichen Streitkräften mit dem Hinweis auf
ihre humanitären Prinzipien abgelehnt haben. In diesem
Zusammenhang sei an den Streit im Herbst 2003 über die
Einrichtung eines deutschen "Provincial Reconstruction Teams" (PRT)
erinnert. Beinahe unisono warnten Vertreter verschiedener NGOs
davor, ein Einsatz der Bundeswehr sei äußerst
schädlich, da hierdurch die Arbeit der NGOs kompromitiert
würde und die Mitarbeiter großer Gefahr ausgesetzt
seien.
Mittlerweile stellt sich die Situation anders
dar. Seit dem Engagement der Bundeswehr im afghanischen Kunduz und
Feyzabad haben sich Dutzende Hilfsorganisationen in der Region neu
oder wieder angesiedelt. In wöchentlichen Treffen werden
Maßnahmen untereinander koordiniert und selbst viele NGOs
haben mittlerweile erkannt, dass auch eine Kooperation mit
Streitkräften durchaus Sinn macht, eben genau deshalb, weil
sich die Fähigkeiten ergänzen. So sorgt die Bundeswehr
nicht nur für ein sicheres Umfeld, sie kann auch
Aufklärungs-, Transport- und Versorgungsfähigkeiten zur
Verfügung zu stellen, die viele Maßnahmen der NGOs
überhaupt erst ermöglichen und auch Redundanzen vermeiden
helfen.
Verschiedene NGOs betrachten das Militär
aber weitherhin als einen unliebsamen Konkurenten, insbesondere
deshalb, weil die durch zivil-militärische Kooperationen
zustandegekommenen Projekte in der eigenen Bilanz fehlen und damit
der Kampf um die begrenzten Spendentöpfe erschwert wird. Im
Großen und Ganzen jedoch ist vorsichtiger Optimismus
angebracht. Wenn einerseits viele NGOs die Arbeit der Bundeswehr
vor Ort loben und andererseits die eingesetzten Soldaten zufrieden
über die Zusammenarbeit mit den NGOs sind, dann ist dies ein
Grund zur Hoffnung.
Brauchen die Helfer also Waffen? Nicht immer
und überall - aber meist geht es nicht ohne. Wer also sein
Milchpulver nicht verpulvern will, sollte über trockenes
Pulver verfügen. Nur Waffen können bisweilen
sicherstellen, dass die eingesetzten Mittel auch wirklich da
ankommen, wo sie gebraucht werden. Deshalb wird in Zukunft bei
Nation-Builing-Projekten die zivil-militärische Zusammenarbeit
immer wichtiger werden.
Jonas Böttler, Deutsche Gesellschaft für
Auswärtige Politik, Berlin.
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