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Michèle Auga
Virtuelle Selbstbestimmung
Palästina: Ein Volk wartet auf seinen
eigenen Staat
Unmittelbar nach Überwindung des Kalten
Krieges 1989/90 schien es möglich, sich nun auch dem
großen Konfliktherd Naher Osten anzunehmen. Doch 15 Jahre
später scheinen der Frieden und die palästinensische
Staatsgründung noch immer in weiter Ferne. Zwar birgt die
Umsetzung des israelischen Abkop pelungsplanes aus dem Gazastreifen
und Teilen der nördlichen Westbank Chancen für eine
Wiederbelebung des Friedensprozesses. Andererseits werden Stimmen
aus beiden Lagern laut, die - wenn auch aus völlig
unterschiedlichen Gründen - diesen "Zug" bereits als
abgefahren bezeichnen.
Mit Blick auf die endlose Liste von
Konferenzen, Initiativen und "Straßenplänen zum Frieden"
muss die scheinbar naive Frage erlaubt sein, weshalb es zur
Gründung des Staates Palästina noch immer nicht gekommen
ist. Ein Verweis auf palästinensischen Terror und israelische
Siedlungstätigkeit greift dabei zu kurz.
Seit wann existiert die Idee eines Staates
Palästina? Diese Frage ist untrennbar mit dem Konzept einer
"nationalen Heimstätte für das jüdische Volk"
verwoben. Aus dem Paradox dieser engen Verbindung einerseits und
der tiefen Feindschaft andererseits ergibt sich die eigentliche
Tragik des Konflikts. Während es durch die Geschichte immer
eine kleine Anzahl jüdischer Gemeinden in Hebron oder
Jerusalem gegeben hatte, die mehr oder weniger friedlich neben
arabisch-christlichen oder arabisch-muslimischen Nachbarn leben
konnten, waren es die nationale Idee Theodor Herzls und die damit
verbundenen Einwanderungswellen, die die nationale Idee
"Palästinas" hervorbrachten. Als von 1882 bis 1903 in einer
ersten "Alija" 30.000 Juden in das vermeintliche "Land ohne Volk"
kamen, lebten dort 350.000 Menschen. Diese Christen und Muslime,
Bürger des Osmanischen Reiches, fühlten sich als Araber,
nicht als "Palästinenser". Es war das westliche Konzept der
"nationalen Selbstbestimmung" von US-Präsidenten Woodrow
Wilson und das des Völkerbundes, das sich nun auch die
Palästinenser zu Eigen machten. Wilson vertrat im Rahmen
seines 14-Punkte Programms vom 8. Januar 1918 die Ansicht, dass in
Konfliktgebieten Abstimmungen über die Zugehörigkeit zu
einer Nation durchgeführt werden sollten. Basierend auf dieser
Idee schufen sich die Araber in Palästina einen
konkurrierenden Nationalismus zum Zionismus. Das Prinzip der
Selbstbestimmung machte den palästinensischen Nationalismus
erst notwendig.
Während sich beide nationalen Konzepte
entlang religiöser Begründungszusammenhänge
konstruierten, ging es in der Realpolitik des 20. Jahrhunderts
schlichtweg um Land. Mit der zweiten "Alija" bis 1914 war die
jüdische Bevölkerung bereits auf 85.000 Menschen, bis zum
Ende der fünften Einwanderungswelle 1939 auf 265.000
angewachsen. In der Zwischenzeit hatten sich die Spannungen
zwischen den arabischen und jüdischen Gemeinden 1920/21
bereits einmal gewaltsam entladen. Pogrome und Vertreibungen
ungeahnten Ausmaßes verankerten sich im kollektiven
Gedächtnis beider Völker. Während die Vertreter der
inzwischen 600 jüdischen Siedlungen im Teilungsplan der UNO
1947 einen ersten Meilenstein zur Gründung des Staates Israels
sahen und ihm zustimmten, bedeutete er für die arabische
Bevölkerung im britischen Mandatsgebiet und ihre vom
Pan-Arabismus beseelten Führer der umliegenden Staaten eine
Niederlage.
Während die einen am 14. Mai 1948 einen
Gebietszugewinn (56 Prozent des ursprünglichen Mandatsgebiets)
und ihre Unabhängigkeit feierten, sollten sich die anderen von
nun an mit 43 Prozent des Landes zufrieden geben. Jerusalem,
drittheiligster Ort des Islam, sollte als "Corpus Separatum", als
international verwaltete Stadt, nicht zum arabischen Staatsgebiet
gehören dürfen. Die erstmalige Proklamation eines
palästinensischen Staates im gesamten ehemaligen Mandatsgebiet
durch die "All-Palestine Government" in Gaza am 20. September 1948
war nur noch Makulatur. Bis Ende 1948 waren zwischen 600.000 und
750.000 Araber aus dem vom UN-Teilungsplan für Israel
vorgesehenen Gebiet geflohen.
Nach Jahrzehnten der Ignoranz gegenüber
dem Problem räumte die internationale Gemeinschaft am 15.
Dezember 1988 dem Prinzip der Selbstbestimmung Vorrang
gegenüber dem Prinzip der "Effektivität von Herrschaft"
ein: Die Resolution 43/177 der UN-Generalversammlung änderte
die Bezeichnung "PLO" mit einem Federstrich in den virtuellen
"Staat Palästina", der nunmehr als solcher in allen
UN-Organisationen geführt werden müsse. Georg Jellineks
"Dreielementenlehre" wurde außer Kraft gesetzt.
"Palästina" benötigte keine der drei
völkerrechtlichen Anforderungen: ein klar abgegrenztes
Territorium, eine ansässige (nicht immigrierende)
Bevölkerung und eine effektiv wirksame, dauerhafte Herrschaft
einer Regierung. Die Montevideo-Formel, die die
Souveränität des Staates nach außen beschreibt,
begrenzte den Eifer der Generalversammlung und beließ das
Recht zu Verhandlungen wohlweislich bis zum heutigen Tag bei der
PLO.
De facto begann mit der ersten
Friedenskonferenz von Madrid 1991 ein zunächst unumkehrbar
erscheinender Prozess der Staatsbildung, der über die
Israelisch-Palästinensische Prinzipienerklärung vom 13.
September 1993, das Gaza-Jericho-Abkommen (Oslo I) vom 4. Mai 1994,
das Israelisch-Palästinensische Interim-Abkommen (Oslo II) vom
28. September 1994 bis zu den Wye-River-Abkommen (Oktober 1998 -
September 1999) deutliche Erfolge brachte.
Die beiden Kriegslager näherten sich an,
man trat in Gespräche ein, anerkannte die Legitimität der
jeweils verhandelnden Delegationen und realisierte bis dahin
Unerreichtes: freie Wahlen für die palästinensische
Bevölkerung und das Einsetzen einer palästinensischen
Regierung. Die Staatsbildung würde nicht aus dem Nichts
kommen. Behutsam und unter Einhaltung demokratischer Regeln
würden neben Israel ein geordnetes, rechtsstaatliches
Gemeinwesen entstehen. Allein vom Staat Palästina war bis zum
30. April 2003, dem Tag der Veröffentlichung der so genannten
"Road Map zum Frieden im Nahen Osten" durch das amerikanische
Außenministerium, nie die Rede. Als am 8. November 1999 die
Endstatusverhandlungen über die Frage der Flüchtlinge,
der Siedlungen, des Wassers und der Zukunft Jerusalems begannen,
ging die palästinensische Delegation davon aus, dass nun die
Phase der Gespräche eingeleitet würde, an deren Ende der
Staat Palästina ausgerufen werden könne. Es dauerte drei
Monate, bis die palästinensische Seite die Verhandlungen
abbrach. Auch der Gipfel von Camp David im Juli 2000 und die
Verhandlungen von Taba im Januar 2001 scheiterten.
Stattdessen war in den Oslo-Verträgen
das Prinzip der "Selbstbestimmung" erneut festgeschrieben worden
und spiegelte sich auch im Namen des gegründeten Gebildes, das
sich fortan Autonomiegebiete nennen durfte. Die staatlichen
Insignien wie eigene Briefmarken oder das Hissen der
palästinensischen Fahne täuschten jedoch nur darüber
hinweg, dass keine wirkliche Souveränität hergestellt
wurde. Im Gegenteil. Zwar schrieben die Vereinbarungen von Oslo der
Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) das "klar
abgegrenzte Territorium" zu. Dieses belief sich jedoch selbst nach
dem israelischen Truppenabzug vom März 2000 in den so
genannten "A-Gebieten", in denen volle palästinensische
Souveränität (zivil und militärisch) gegeben war,
auf nur 17,1 Prozent der Westbank und des Gazastreifens. 23,9
Prozent des Gebietes waren unter gemeinsamer
israelisch-palästinensischer und 59 Prozent beider Regionen
unter alleiniger israelischer Kontrolle.
Während die internationale Gemeinschaft
diese Regelung als Testfall für die Regierungsfähigkeit
der PA in einer Interimsphase ansah, die nur bis zum Jahr 1999
hätte anhalten sollen, erlebte die palästinensische
Bevölkerung vor Ort eine nie zuvor da gewesene
Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, die nun auf die A- und
B-Gebiete beschränkt oder zumindest von einer Vielzahl von
Checkpoints bestimmt sein sollte. Der rasante Anstieg der
Bevölkerungszahlen in den israelischen Siedlungen und der
Ausbau israelischer Infrastruktur gefährdeten das von der
Bevölkerung erwartete zukünftige Staatsgebiet: Es
schrumpfte. Mit dem Abschluss des Baus der geplanten 620 Kilometer
langen israelischen Sicherheitsanlagen aus Mauer und Zaun, von der
490.500 Palästinenserinnen und Palästinenser direkt
betroffen sind, ist das potenzielle Staatsgebiet in der Westbank
auf 53 Prozent zusammengefallen. Darüber hinaus droht eine
Ansammlung voneinander unabhängiger, nicht miteinander
verbundener Kantone, kein Flächenstaat, der mit dem
Gazastreifen verbunden wäre.
Als auch Israel 1949 in die UNO aufgenommen
wurde, obwohl sein Territorium nicht exakt festgelegt war, machten
viele Völkerrechtler geltend, dass eine "unabhängige
Herrschaft mit Aussicht auf Dauer" ein bedeutenderes Kriterium zur
Definition des Staates sei. Während auch die Autoren der "Road
Map" des Jahres 2003 die Ausrufung eines vorläufigen Staates
für denkbar hielten, stellen die Realitäten des Jahres
2005 sowohl die Lebensfähigkeit eines palästinensischen
Staates in den Grenzen des verbliebenen Territoriums infrage als
auch die Dauerhaftigkeit der jetzigen palästinensischen
Herrschaftsstrukturen. Die Legitimität der
Autonomiebehörde in der Bevölkerung schwindet stetig. Nie
zuvor war ihr Gewaltmonopol so gefährdet wie heute. Ein
Programm wie das der Hamas, das sich nicht auf ein nationales Recht
auf Selbstbestimmung beruft, sondern religiös herleitet,
erscheint vielen Palästinensern 57 Jahre nach dem
UN-Teilungsplan weitaus glaubwürdiger als die säkular-
nationalistische Ideologie der regierenden Fatah von Präsident
Mahmoud Abbas.
Ein von palästinensischer Seite zwar
noch immer offiziell geleugneter, aber für viele Menschen
einzig sinnvoller Ausweg ist der der Emigration. Auf diese Weise
ginge dem palästinensischen vorläufigen Staat auch noch
der letzte Gründungszweck verloren: seine Bevölkerung.
Allein die Stadt Qalqilya - fast vollkommen von einer Mauer
eingeschlossen - hat laut Angaben ihres ehemaligen
Bürgermeister Zahran zehn Prozent ihrer Bevölkerung
verloren. Sollen sich die Zurückgebliebenen weiterhin zwischen
zwei Lagern entscheiden müssen? Folgen sie der Argumentation
der regierenden Fatah, deren instrumentalisierter Nationalismus
kaum konfliktlösende Funktion hat, oder setzen sie auf die
islamistischen Kräfte? Beide Alternativen haben bisher in eine
Sackgasse geführt.
Palästina - wann? Israel braucht keine
"autonomen Gebiete", sollte ein auf Scheitern angelegtes
"Pseudo-Palästina" vermeiden. Die Palästinenser brauchen
keine Selbstbestimmung im Sinne einer rein nationalen
Bedürfnisbefriedigung. Beide Völker haben einen Anspruch
darauf, sich aus der Zeit Woodrow Wilsons in die globalisierte Welt
des 21. Jahrhunderts zu begeben. In dieser globalisierten Welt
lösen sich Nationalismen - nicht Nationen - auf. Sie werden
ersetzt durch kollektive Zusammengehörigkeiten entlang von
Projekten wie der Europäischen Union. Nur wenn sich beide
Völker von nationalistischen Traditionen sowie der Vermischung
von Nation und Religion lösen können, scheint ein
Ausgleich möglich. Dies könnte den Weg frei geben, sich
auch entlang gemeinsamer lokaler Interessen zu orientieren.
Projekte der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit waren nie so
dringend wie nach dem Mauerbau.
Michèle Auga war bis Juni 2005 für die
Friedrich-Ebert-Stiftung in Gaza tätig.
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