Mir A. Ferdowsi/Volker Matthies
Frieden gibt es nicht als Quick-Fix
Kriegsfolgenbewältigung und
Wiederaufbau
Historisch gesehen hat es schon immer Nachkriegssituationen,
Kriegsfolgenbewältigungen und Wiederaufbaumaßnahmen
gegeben. In der Regel jedoch blieb diese Aufgabe den betroffenen,
besiegten und unterworfenen Menschen, Gesellschaften und Regionen
selbst überlassen. Die Hilfe von dritter Seite oder gar von
den siegreichen Mächten war kaum zu erwarten, sieht man einmal
von dem Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg ab.
Erst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts definierte die
internationale Staaten- und Völkerrechtsgemeinschaft im Zuge
einer Verzahnung des sicherheitspolitischen mit dem
entwicklungspolitischen Diskurs die Unterstützung von lokalen
und regionalen Anstrengungen zur Kriegsfolgenbewältigung als
eine neue entwicklungs- und friedenspolitische Herausforderung.
Diese brachte UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali in
seiner "Agenda für den Frieden" von 1992 mit der Kategorie der
"Friedenskonsolidierung" (post-conflict peacebuilding) auf den
Begriff. Ihr zentrales Ziel war zunächst die Sicherung des
erreichten "negativen Friedens", nachfolgend jedoch auch die
längerfristige Förderung struktureller
Friedensfähigkeit.
Sicherheitsdilemma
Zunächst gibt es immer ein Sicherheitsdilemma: In welchem
Maße ist eine Demilitarisierung des Konfliktes gelungen? Gibt
es eine elementare öffentliche und private Sicherheit, also
eine Eindämmung anhaltender beziehungsweise neuer politischer
oder privater Gewalt? Diesem folgt das Legitimitäts- und
Partizipationsdilemma: In welchem Maße also bestehen eine
autorisierte und legitimierte Regierung, ein effektiv
funktionierender Staats- und Verwaltungsapparat,
Rechtsstaatlichkeit und der Schutz von Menschen- und
Minderheitenrechten? Ist eine Beteiligung von Kräften der
Zivilgesellschaft und von ehemaligen Kriegsparteien am politischen
Prozess gegeben? Auch soziale Gerechtigkeit spielt eine wichtige
Rolle: In welchem Maße werden Strukturen der Gewalt bestimmter
Ökonomien und Schattenwirtschaften sowie Korruption
zurückgedrängt und im Gegenzug wohlfahrtsorientierte
Elemente friedlichen Wirtschaftens gefördert, Arbeitslosigkeit
und Armut bekämpft sowie allgemein die
(Über-)Lebenschancen der Mehrheit der Bevölkerung
verbessert? Schließlich die Aussöhnung und
Vertrauensbildung: In welchem Maße werden öffentliche
Diskurse über Krieg und Kriegsursachen geführt,
Kriegsverbrechen aufgedeckt und geahndet, Opfer des Krieges
rehabilitiert und reintegriert? Wie werden kollektive und
individuelle Traumata bearbeitet und Prozesse der Versöhnung
sowie der Schaffung nachbarschaftlichen Vertrauens
gefördert?
Diese vier Elemente heben nicht nur den Prozesscharakter des
schwierigen Übergangs vom Krieg zum Frieden hervor, sondern
stellen darüber hinaus die hierfür erforderlichen
friedenspolitischen Anstrengungen der Akteure vor Ort in den
Mittelpunkt. Der Ausgang solcher Prozesse ist offen, mit der
Möglichkeit der Regression und des Scheiterns. Wie die
aktuellen Entwicklungen in Afghanistan und im Irak zeigen, ist es
oft einfacher, den Krieg als den Frieden zu gewinnen.
Denn die Konsolidierung von Nachkriegsgesellschaften stellt sich
als ein komplexer, mehrdimensionaler, aber im Kern genuin
politischer Prozess der Transformation vom Krieg zum Frieden dar,
der Elemente der Rehabilitation, der Rekonstruktion und der
Erneuerung beinhaltet. Zur Einleitung eines sich selbst tragenden
Prozesses der Friedenskonsolidierung bedarf es aller Erfahrung nach
der kombinierten und kumulativen Wirkung von Fortschritten in allen
genannten vier Dimensionen. Weithin ungeklärt und umstritten
sind dabei jedoch die Abfolge der Schritte und die Setzung von
Prioritäten: Der staatszentrierte Ansatz stellt im Sinne der
Formel "Staatsbildung zuerst" die Rekonstruktion des Staates und
des staatlichen Gewaltmonopols ins Zentrum der Bemühungen und
fordert eine vorrangige Konzentration auf die Bearbeitung von
Sicherheitsproblemen.
Demgegenüber plädiert der
institutionalistisch-prozessuale Ansatz dafür, einen
politischen Gesamtrahmen zu schaffen, in dem sich ein genuin
politischer Prozess entfalten kann, der zunehmend an
gesamtgesellschaftlicher Autorität und Legitimation gewinnt,
den anderen Dimensionen der Friedenskonsolidierung die Richtung
vorgibt und sich schließlich mit vereinbarten Regeln, Normen
und Mechanismen zum friedlichen Konfliktaustrag
institutionalisiert.
Die eminent politische Natur der Friedenskonsolidierung wird oft
unterschätzt oder verdrängt. Dabei stellt sie in gewissem
Sinne gar eine "Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln" dar,
die mit der Interessen- und Machtpolitik sozialer Gruppen und
politischer Akteure verbunden ist und Gewinner und Verlierer
hervorbringt. Die ernüchternden Ergebnisse von 15 Studien zu
Nachkriegsgesellschaften in Afrika, Asien, Europa, Lateinamerika
und Nahost haben einmal mehr belegt, wie komplex und problembeladen
die Konsolidierung des Friedens in ihrer politisch-praktischen
Umsetzung ist. Zwei Beispiele:
Erstens: In vielen Fällen findet man eine belastete
Situation der demobilisierten ehemaligen Kämpfer vor. Sie sind
in der Regel jung, ohne Ausbildung und ohne Arbeit und stellen
somit ein Sicherheitsproblem dar, da ihre gesellschaftliche
Reintegration aufgrund unzureichender Ressourcen nicht im
erforderlichen Umfang durchgeführt werden kann. Außerdem
stellt die Durchsetzung der zivilen Kontrolle des Militärs die
meisten Nachkriegsgesellschaften vor erhebliche Probleme. Es fehlt
vielfach nicht nur an jeglicher Tradition eines demokratisch
kontrollierten Militärs, sondern es mangelt auch an
entsprechenden institutionellen und gesellschaftlichen
Vorausetzungen.
Zweitens: Demokratisierungsbemühungen sollen dazu
beitragen, Frieden und Sicherheit zu bewahren, Gerechtigkeit und
Menschenrechte zu verwirklichen und die wirtschaftliche und
gesellschaftliche Entwick-lung zu fördern. Doch wie wir aus
der Erfahrung Europas wissen, lässt sich dieser Weg nicht im
Zeitraffer bewältigen. Er erfordert einen tiefer gehenden
Prozess der politischen Entwicklung, der die demokratischen Werte
und die demokratische Kultur in allen gesellschaftlichen Schichten
verankert. Denn demokratische Systeme bedürfen zu ihrer
inneren Legitimation und zu ihrer langfristigen Stabilität
einer breiten Schicht von Menschen mit Staatsbürgergesinnung.
Doch diese lässt sich nicht über Nacht "erschaffen", sie
ist das Ergebnis langwieriger und konfliktreicher
gesellschaftlicher Prozesse.
Angesichts der bislang vorliegenden Erfahrungen hinsichtlich des
Erfolgs und Misserfolgs der Friedenskonsolidierung verwundert es
nicht, dass sich kein klares Muster von Erfolgsbedingungen erkennen
lässt. Offenkundig gibt es keine einheitliche, einfache
"Formel für den Frieden".
Gleichwohl lassen sich einige Schlüsselfaktoren benennen,
die für die Nachhaltigkeit eines einmal eingeleiteten
Kriegsbeendigungs- und Friedensprozesses offenkundig dienlich
sind:
Ob Führungseliten in der Lage sind, die Entscheidung
für den Frieden auch in ihrer eigenen Anhängerschaft
durchzusetzen, womöglich gegen hinhaltende Widerstände in
Teilen ihrer Klientel.
Ob zwischen den Konfliktparteien eine grundlegende
politisch-konstitutionelle Vereinbarung über die Konturen
einer künftigen Nachkriegsordnung getroffen wird, die allen
Seiten eine angemessene Beteiligung am politischen Prozess und an
den ökonomischen Ressourcen in Aussicht stellte.
Ob es gelingt, strukturelle Hemmnisse und Regressionsgefahren
für den Kriegsbeendigungs- und Friedensprozess zu beseitigen,
die insbesondere aus der kriegsökonomischen Eigendynamik
resultieren.
Diese drei Aspekte verallgemeinert, lassen sich folgende
Aussagen über die Erfolgsbedingungen von
Friedenskonsolidierung treffen:
Die Beachtung des Prinzips der Inklusivität, also die
Einbeziehung möglichst aller relevanten politischen und
bewaffneten Kräfte in den Friedenskonsolidierungsprozess;
Die Lösung des Sicherheitsdilemmas, also die Herstellung
eines Mindestmaßes an öffentlicher und privater
Sicherheit.
Die Wiederherstellung, Erneuerung oder Stabilisierung
(funktionaler) Staatlichkeit, also die Schaffung einer
arbeitsfähigen, autorisierten und legitimierten Regierung und
Verwaltung. Wo dies nicht möglich ist, müssen
Übergangslösungen auch "jenseits des Staates" gefunden
werden.
Die Förderung von Vertrauen, Dialogfähigkeit und
Kompromissbereitschaft ehemaliger Kriegsparteien und deren
Bereitschaft, sich auf einen schwierigen, politisch strittigen,
längerfristigen Reform- und Transformationsprozess
einzulassen. Die Ausweitung des meist auf nationaler Ebene "von
oben" betriebenen Friedensprozesses auf die mittleren und unteren
Ebenen von Staat und Gesellschaft, um lokale und regionale
Friedensprozesse "von unten" zu befördern.
Reintegration von Kriegsopfern
Denn nur so lässt sich der Friedensprozess nachhaltig in
der Bevölkerung verwurzeln: mit der sozialen und
ökonomischen Fundierung des Friedensprozesses durch die
Rehabilitation und Reintegration der Kriegsopfer, durch die
Bereitstellung von Gütern der Grundversorgung wie Nahrung,
Gesundheit und Bildung, durch die Wiederherstellung von Vertrauen
und nachbarschaftlicher Netzwerke, durch den Abbau gewalthaltiger
Elemente wirtschaftlicher Aktivitäten und die Schaffung
wohlfahrts- und friedensorientierter ökonomischer Strukturen
und Prozesse, sowie durch zukunftsorientierte Investitionen in das
Human- und Sozialkapital der kriegszerrütteten
Gesellschaft.
Diese Bedingungen zur Ermöglichung eines gelungenen und
nachhaltigen Prozesses zur Friedenskonsolidierung deuten auf zwei
weitere Facetten hin: den Zeitfaktor, da Frieden nicht als
Quick-Fix zu haben ist, sondern eines Engagements mit zäher
und zielstrebiger Geduld und mit langem Atem bedarf, und die
externen Akteure. Sie üben zwar auf den Kriegsbeendigungs- und
Friedensprozess auf vielerlei Weise positiven Einfluss aus, ihnen
müsste jedoch klar sein, dass der Friede nicht von außen
gebracht oder erzwungen werden kann, sondern letztlich von den
Akteuren selbst, ihrer Bereitschaft und ihrem Willen abhängt,
die errungenen Spielräume zu nutzen und Bemühungen um
eine breitenwirksame Stabilisierung des Friedens aufzunehmen.
Mir A. Ferdowsi ist Privatdozent an der Universität
München. Volker Matthies ist Professor an der Universität
Hamburg.
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