Martin Ebbing
Schritt für Schritt in den
Bürgerkrieg
Irak: Ernüchternde Bilanz nach zweieinhalb
Jahren Wiederaufbau
Die Neo-Konservativen, die im Weißen Haus
von George W. Bush wesentlich den außenpolitischen Kurs der
USA bestimmen, sind nicht für ihre Vorliebe für eine
Politik des Nation-Building bekannt. Aus ihrer Weltsicht sollte
sich eine militärische Großmacht darauf beschränken,
nationale Interessen zu verfolgen und als globale Ordnungskraft
aufzutreten. Der Wiederaufbau eines zerrütteten oder
zerstörten Staates ist dagegen in erster Linie Aufgabe der
Menschen, die dort leben, oder internationaler Organisationen wie
der UNO. Zudem gelten derartige Unternehmungen als langwierig,
kostspielig und sind mit dem hohen Risiko behaftet,
fehlzuschlagen.
In Afghanistan hatte die US-Regierung sehr
schnell Koalitionen gebildet und die Vereinten Nationen mit an den
Tisch gebracht, um die eigene Rolle auf ein Mindestmaß zu
reduzieren. Im Irak war dies nicht möglich. Nach den
Kontroversen im Vorfeld der Invasion standen nicht nur wichtige
westliche Partner wie Frankreich und Deutschland, sondern auch die
UNO der Vorstellung ablehnend gegenüber, die Scherben für
eine Politik aufkehren zu sollen, die sie von Anfang an abgelehnt
haben.
Unterstützt von Großbritannien
sowie einer bunt zusammengewürfelten "Koalition der Willigen",
die aber nicht besonders zahlungskräftig ist, waren und sind
die USA beim Aufbau eines "neuen Iraks" weitgehend auf sich allein
gestellt. Fazit: Es ist weit einfacher, einen Krieg zu gewinnen als
den Frieden.
Nach zweieinhalb Jahren Besatzung ist die
Bilanz des Wiederaufbaus äußerst ernüchternd. Auf
der positiven Seite steht, dass der Diktator gestürzt wurde.
Der Irak erlebte im Januar dieses Jahres seine ersten freien
Wahlen. Eine neue Verfassung wurde erarbeitet. Das Land besitzt
halbwegs freie Medien. Eine neue, unabhängige Justiz wird
aufgebaut. Ein Reihe von Schulen ist instand gesetzt worden.
Universitäten können ihre Lehrpläne selbst
bestimmen. Die auf Befehl von Saddam Hussein ausgetrockneten
Marschen im Süden wurden wieder geflutet und die Menschen
können zu ihrer traditionellen Lebensweise zurückkehren.
Das Telefonnetz wurde verbessert und Mobilfunk eingeführt. Die
Ernährungssituation und die medizinische Versorgung, beide von
den langjährigen Sanktionen gegen den Irak stark in
Mitleidenschaft gezogen, ist in vielen Regionen besser geworden.
Abwasserkanäle wurden gebaut und neue Stromleitungen
gelegt.
All diese Erfolge stehen aber im Schatten der
anhaltenden Unsicherheit. Was nützt eine neue Schule, wenn die
Eltern Angst haben, ihre Kinder zum Unterricht zu schicken? Der
Irak befindet sich auch nach der Niederlage der irakischen Armee
weiter im Kriegszustand. Im Monatsdurchschnitt werden 77
US-Soldaten von Aufständischen und Terroristen getötet.
Die Zahl hat eine leicht zunehmende Tendenz. Die Gesamtzahl der
amerikanischen Verluste wird in diesem Herbst die Marke von 2.000
überschreiten.
Über die Zahl der getöteten
irakischen Zivilisten und Sicherheitskräfte liegen keine
genauen Angaben vor, aber sie liegt mit Sicherheit weit höher.
Im Juli gab das Innenministerium in Bagdad bekannt, dass nach
seiner Zählung in den Monaten von August letzten bis Mai
diesen Jahres 8.175 Iraker Opfer von Anschlägen und Gewalt
wurden. Im Monatsdurchschnitt entspricht dies mehr als 600 Toten.
Tendenz gegenüber dem Vorjahr ebenfalls steigend. Nicht
mitgezählt wurden dabei die Opfer von Kriminalität, die
sprunghaft angestiegen ist.
Präsident Bush formulierte es als
Kriegsziel, dem islamistischen Terrorismus einen Schlag zu
versetzen. Stattdessen ist der Irak heute zu einem neuen
Rekrutierungsfeld für eben diese Terroristen geworden. Ein
ständiger Strom von moslemischen Freiwilligen aus allen
Ländern kommt in den Irak, wird ausgebildet und sammelt seine
ersten praktischen Erfahrungen. Wer bei den Kämpfen nicht
umkommt oder nicht als Selbstmordattentäter endet, kann als
Veteran des Terrors später auch an anderen Orten der Welt
eingesetzt werden.
Viele der neu gebauten Anlagen werden durch
Sabotageakte gleich wieder zerstört. Immer noch wird im Land
weniger Elektrizität produziert als vor dem Krieg. In diesem
Sommer, in dem die Temperaturen über 50 Grad stiegen, litt
Bagdad unter mehr Stromausfällen als in den Jahren zuvor. Da
die Wasserversorgung ebenfalls von der Elektrizität
abhängt, kommt es auch hier zu empfindlichen
Ausfällen.
Das Benzin ist in einem Land, dass über
die drittgrößten Rohölvorkommen der Welt
verfügt, knapp geworden und muss rationiert werden. Der Irak
exportiert heute weniger Öl als vor dem Krieg.
Die Arbeitslosigkeit ist immer noch
exorbitant hoch. Auch hier fehlen genaue Zahlen, aber die
Industriebetriebe liegen seit Kriegsbeginn im März 2003 brach.
Plünderer sind über sie hergefallen, so dass sie oft nur
noch als Ruinen stehen.
Die überwiegende Mehrheit der Iraker
sagt, ihre Lebensumstände waren trotz Sanktionen zu Saddams
Zeiten besser als heute nach der Befreiung durch die
Amerikaner.
Die Geschichte der Fehlschläge und
Missgeschicke beim Wiederaufbau ist weitgehend bekannt. Der
amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat sich seit
seinem Amtsantritt im Jahr 2001 darauf konzentriert, seine
Vorstellung von einer modernen, hoch effektiven Armee umzusetzen.
Seine Soldaten sollen mit der neusten Technik ausgestattet, hoch
flexibel und in kürzester Zeit an jedem Ort der Welt
einsatzbereit sein. Vor allem sollen sie eins tun: Kämpfen.
Die Versorgung der Truppen, Nachschub und Logistik wurden deshalb
an private Firmen ausgelagert. Auf Nation-Building ist eine solche
"schlanke Armee" nicht vorbereitet.
Dennoch übernahm das Pentagon die
Federführung beim Wiederaufbau des Iraks und stellte das
amerikanische Außenministerium beim hausinternen
Kräftegerangel ins Abseits. Die Pläne, die im State
Department für die Zeit nach dem Krieg entwickelt wurden,
wurden von den Militärs beiseite geschoben. Man begann lieber
bei Null und versuchte zu improvisieren.
Die Mängel traten bereits wenige Tage
nach dem Fall von Bagdad zu Tage, als Plünderer die Gunst der
Stunde nutzten. Das US-Militär schritt nicht ein. Die
"schlanke Armee" war personell zu dünn ausgestattet und
betrachtet "policing" allemal nicht als seine Aufgabe.
Hunderte von Helfern für die Planung des
Wiederaufbaus wurden nach Bagdad eingeflogen. Kaum einer der neuen
Planer hat irgendwelche tieferen Kenntnisse von der irakischen
Geschichte, Wirtschaft oder Kultur. College-Absolventen wurden
durch Organisationen, die den Republikanern nahe standen,
rekrutiert und fanden sich plötzlich als Verantwortliche
für die Verwaltung des Haushaltes eines Landes mit 26
Millionen Einwohnern wieder. Prioritäten für den Aufbau
wurden wöchentlich neu definiert, ohne dass es ein sinnvolles
System der Erfolgskontrolle gab. Milliarden an US-Dollar
versickerten irgendwo zwischen der Green Zone, dem ehemaligen
Präsidentenpalast, in dem die Amerikaner ihr Heerlager
aufgeschlagen haben, und der Umsetzung des Projektes. Die
Abwassergrube wurde zwar bezahlt, aber nie gebaut. Niemand
weiß, wo das Geld geblieben ist. Windige Geschäftsleute
und viele Mitglieder der neuen, von den neuen Machthabern
eingesetzten Regierung fanden schnell heraus, wie sie diese
Situation zu ihrem persönlichen Vorteil nutzen
konnten.
Wichtige Zeit ging so verloren. Auch wenn
viele Iraker den Sturz von Saddam Hussein begrüßten,
waren sie von der Aussicht nicht begeistert, dass ihr Land nun zu
einer amerikanischen Kolonie werden würde - es sei denn, die
USA würden ihre Technologie und ihre Wirtschaftskraft zur
Verbesserung der Lebensbedingungen im Lande nutzen. Diese
Verbesserung trat nicht ein und so wurde die Forderung nach einem
Abzug der Amerikaner lauter.
Bevor der Aufbau richtig in Schwung geraten
konnte, geriet er in einem fatalen Kreislauf. Mit dem Erstarken des
gewalttätigen Widerstandes und des Terrorismus wurde es immer
schwieriger, zivile Projekte umzusetzen. Hilfsorganisationen und
private Unternehmen zogen sich aufgrund der gefährlichen Lage
zurück. Nach einem Anschlag auf ihr Hauptquartier in Bagdad
verließ die UN das Land. Die Ausgaben für
zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen fressen inzwischen 20
Prozent und mehr des geplanten Budgets. Der Aufbau geriet ins
Stocken. Die wirtschaftliche Misere, die oft der Nährboden
ist, aus dem sich der Widerstand rekrutiert, setzt sich fort.
Fehleinschätzungen und Unkenntniss des Landes kamen
hinzu.
Die Auflösung der Saddam treuen Armee
sowie die Reinigung des Staatsapparates von allen
Unterstützern des alten Regimes mag zwar politisch konsequent
gewesen sein, erwies sich aber als eine verhängnisvolle
Entscheidung, weil damit ein Heer an Arbeitslosen geschaffen wurde,
denen keine Alternative angeboten werden konnte. Frustriert und
erzürnt schlossen sich viele der Gefeuerten dem Widerstand
an.
Bei ihren Verhaftungsaktionen und
Hausdurchsuchungen gingen die US-Militärs auf eine Weise vor,
dass sie mehr Sympathisanten des Widerstandes schufen als sie
dingfest machen konnten. Die Misshandlungen im Gefängnis Abu
Ghraib, von den Tätern selbst fotografiert, waren nur die
Spitze des Eisberges.
Der Plan, durch ein unüberschaubar
kompliziertes System eine erste, US-gefällige Regierung
wählen zu lassen, scheiterte am Einspruch eines einzigen
Mannes. Ayatollah Ali Sistani, geistlicher Führer der
Schiiten, die wiederum die Mehrheit der Bevölkerung im Lande
ausmachen, verlangte Direktwahlen. Seine Worte markierten, was im
Lande politisch durchsetzbar ist oder nicht. Die USA lenkten
ein.
Neben Planlosigkeit und Unkenntnis kommt ein
dritter Faktor hinzu, der den Aufbau des Iraks negativ beeinflusst.
Die Zielsetzungen orientieren sich oft mehr an den Erfordernissen
der amerikanischen Innenpolitik als an den wirklichen
Bedürfnissen des Landes. Beispiel: die jüngste
Ausarbeitung einer Verfassung.
Gedacht war die verfassungsgebende
Versammlung als ein Forum, in dem Schiiten, Sunniten und Kurden
eine Plattform finden sollten, wie sie gemeinsam ihr
zukünftiges Leben im Irak gestalten wollen. In den vergangenen
Monaten zeichnete sich bereits ab, dass die Spannungen zwischen
diesen drei Gruppen über die Verteilung der Macht und der
Bodenschätze immer mehr ans Tageslicht traten. Das Schreiben
einer Verfassung hätte ein Katalysator sein können, eine
Verständigung über diese Differenzen zu finden und sich
auf Gemeinsamkeiten zu besinnen.
Die Gewalt eines Teiles des Widerstandes wie
der Terroristen hat sich in der letzten Zeit sehr gezielt gegen die
Schiiten gerichtet. Schiitische Gruppen reagierten mit Vergeltung,
auf die erneut Vergeltungsaktionen der anderen Seite folgten. Das
Land bewegt sich Schritt für Schritt auf einen
Bürgerkrieg zu.
Die Verständigung hätte Zeit
gebraucht. Es hätte beispielsweise nach Wegen gesucht werden
müssen, um auch den Sunniten, bei denen der Widerstand seinen
Rückhalt hat, eine angemessene Zukunft zu garantieren. Diese
Zeit hat das Weiße Haus nicht. Der Krieg im Irak wird in den
USA immer unpopulärer. Erste Ansätze einer
Friedensbewegung formieren sich. Erinnerungen an Vietnam werden
wach. Präsident Bush drängt deshalb auf vorzeigbare
Ergebnisse, die die Richtigkeit seiner Politik
bestätigen.
Die USA übten deshalb enormen Druck auf
die verfassungsgebende Versammlung aus, unter allen Umständen
bis Ende August zu einem Ergebnis zu kommen. Nicht einmal eine
mögliche Verlängerung der Beratungen um sechs Monate
wurde gewährt, um den Zeitplan mit einem Referendum zur
Verfassung am 15. Oktober und Neuwahlen im Januar einhalten zu
können. Entstanden ist so ein Dokument, das von den Sunniten
kategorisch abgelehnt wird und das die bestehenden Differenzen
über so wichtige Fragen wie die Rolle des Islams oder die
föderative Struktur späterer Klärung
überlässt. Im gegenwärtigen Klima im Irak kann das
nur bedeuten, dass sich die politischen Gruppen ermuntert
fühlen, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Der Abstand zum
Bürgerkrieg ist noch geringer geworden.
Mittlerweile ist auch in Washington
Ernüchterung eingetreten. Die Neo-Konservativen sind
angesichts des Desasters stiller geworden. Von dem "demokratischen
Irak, der auf den ganzen Mittleren Osten ausstrahlen wird", von dem
Präsident Bush nach den erfolgreichen Wahlen im Irak immer
wieder sprach, ist kaum noch die Rede. Die Vorstellung einer
Demokratie nach westlichem Muster wird langsam zu den Akten gelegt.
Realistischer ist eine schiitisch dominierte Regierung, die im
benachbarten Iran ihren engsten Partner sieht. Wundern kann sich
über dieses Ergebnis nur, wer die Demografie des Landes und
seine kulturellen Wurzeln nicht kennt.
Diskutiert wird in Washington nun, wie man
aus dem Schlamassel wieder herauskommen kann. Die Verantwortung
für die Sicherheit des Landes soll so schnell wie möglich
in irakische Hände übergeben werden. Mit Eile wird an dem
Aufbau einer irakischen Polizei und einer irakischen Armee
gearbeitet. Auch hier ist der Fortschritt weit langsamer, als es
sich die Verantwortlichen in Unkenntnis der Verhältnisse
vorgestellt haben. Zudem gleicht die neue irakische Polizei in
ihren Methoden fatal der Polizei von Saddam Hussein. Folter und
Misshandlungen von Gefangenen gelten nach wie vor als probate
Methoden.
Mit dem Aufbau einer irakischen Ordnungsmacht
werden - auch wenn es noch eine Weile dauern wird - die
Voraussetzungen für einen Abzug der Amerikaner geschaffen.
Nicht beantwortet ist damit die Frage, wie der Irak aussehen soll,
damit der Krieg als ein Erfolg gewertet werden kann. Trotz
Drängens der Demokraten im Kongress ist Präsident Bush
einer Antwort auf diese Frage bislang ausgewichen. Seine Reden
gleichen immer mehr Durchhalteparolen. Er fordert seine Landsleute
auf, "nicht das Herz, nicht die Nerven in Zeiten der Prüfung"
zu verlieren. Der US-Präsident scheint zu den Wenigen zu
gehören, die sich noch gegen die Einsicht sträuben, dass
die Invasion im Irak ein Fehlschlag war.
Martin Ebbing arbeitet als freier Journalist in Teheran und
berichtet regelmäßig aus dem Iran, seit 2003 auch aus dem
Irak.
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