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Conrad Schetter
Zwischen Stamm und Staat
Afghanistan: Das Land am Hindukusch sucht seine
Identität
Afghanistan gilt als Paradebeispiel für
einen gescheiterten Staat. So lautet das Urteil vielfach, dass es
Afghanistan nicht allein an rudimentären staatlichen
Strukturen, sondern auch an einer nationalen Identität fehlt
und das Staatsprojekt Afghanistan fehlgeschlagen sei. Dennoch
lässt sich in Afghanistan eine Paradoxie beobachten: So
bewirkte gerade der über 25 Jahre andauernde Krieg, der zu
einer völligen Erodierung staatlicher Funktionen führte,
dass sich erstmals eine nationale Identität
ausprägte.
Betrachtet man die gesellschaftlichen
Strukturen in Afghanistan, kann bereits in der Vielfalt der
kulturellen Identitäten ein Hindernis für die Ausbildung
einer nationalen Identität erblickt werden. Die kulturelle
Mannigfaltigkeit ist enorm: So wurden über 30 verschiedene
Sprachen nachgewiesen. Die Zahl der ethnischen Gruppen variiert je
nach Betrachtungsweise zwischen 30 und 200. Die wichtigsten
ethnischen Gruppen - Paschtunen, Tadschiken, Hazaras und Usbeken -
sind zudem aufgrund tribaler und regionaler Differenzen in sich
stark fragmentiert. Selbst der Islam, dem ungefähr 99 Prozent
der 25 bis 30 Millionen Afghanen angehören, stellt keine
einigende Klammer dar, sondern ist durch eine Vielzahl an
Strömungen und Eigenheiten gekennzeichnet. Neben Sunniten, die
die Mehrheit der Bevölkerung stellen, gibt es Schiiten und
Ismailiten. Gerade in ländlichen Gebieten durchmischen sich
religiöse Vorstellungen mit vorislamischen oder animistischen
Auffassungen, die einer orthodoxen Islamauslegung
entgegenstehen.
Neben dieser kulturellen Diversität wird
als ein weiteres Kriterium, das einem Nation-Building-Prozess im
Weg steht, die Künstlichkeit betont, mit der der afghanische
Staat im so genannten "Great Game" aus der Taufe gehoben wurde: So
legten die Kolonialmächte Britisch Indien und Russland nach
zähem Ringen Ende des 19. Jahrhunderts ein afghanisches
Territorium fest, das als Puffer zwischen ihren Einflussbereichen
dienen sollte. Der Staat Afghanistan wurde demnach in erster Linie
über seine territoriale Fixierung hervorgerufen.
In der Folgezeit konnten sich staatliche
Strukturen nur punktuell ausprägen. So war das gesamte 20.
Jahrhundert durch den Gegensatz zwischen "Staat und Stamm"
geprägt: Während sich in den Städten ein nach
Modernisierung strebender Verwaltungsapparat mit zentralstaatlicher
Ausrichtung verfestigte, konnten sich in den ländlichen
Regionen die lokalen und tribalen Eliten, die jegliche
äußere Einflussnahmen ablehnten, behaupten. Zudem nahm
das Gros der afghanischen Bevölkerung den Staat als fremd oder
gar feindlich wahr. Allein eine schmale urbane, bürgerliche
Elite identifizierte sich mit dem Staat.
Parallel zum Staatsaufbau experimentierten
die afghanischen Herrscher mit unterschiedlichen
Nationalstaatskonzepten. Während zu Beginn des 20.
Jahrhunderts die Auffassung dominierte, dass der Staat der
Hüter einer islamischen Ordnung sei, verstanden die
afghanischen Herrscher seit den 30er-Jahren den Staat als einen
explizit paschtunischen, zumal die Paschtunen mit circa 35 bis 70
Prozent die größte ethnische Gruppe im Lande bildeten.
Demotische Nationsvorstellungen blitzten immer wieder auf - etwa
bei der Einrichtung der konstitutionellen Monarchie 1964 -, konnten
sich aber nicht durchsetzen.
Auch der Afghanistankrieg nahm seinen Ausgang
im Spannungsverhältnis zwischen Staat und Stamm. So
provozierte ein übereifrig und rücksichtslos
durchgeführtes Reformprogramm der 1978 an die Macht
geputschten kommunistischen Partei den Widerstand der
traditionellen, ländlichen Eliten. Der Afghanistankrieg
zeitigte verheerende Folgen. Das Land wurde in Schutt und Asche
gebombt, schätzungsweise zwei Millionen Menschen verloren ihr
Leben, es flüchteten mehrere Millionen Afghanen nach Pakistan
und Iran und das Land war zeitweise mit über zehn Millionen
Anti-Personen-Minen verseucht. Bezüglich des
gegenwärtigen Nation-BuildingProzesses, hatte der
Afghanistankrieg zwei zentrale Ergebnisse: Erstens zerfiel die
zaghaft etablierte Staatlichkeit auf allen Ebenen. Der Krieg
bedingte die völlige Abtragung der staatlichen Infrastruktur
und setzte die Funktionsfähigkeit des afghanischen Staats
außer Kraft. Kriegsfürsten und Milizen lösten das
staatliche Gewaltmonopol ab, und grenzübergreifende
Wirtschafts- und Schmuggelaktivitäten - vor allem Drogenhandel
- ebneten die Bedeutung der Staatsgrenzen ein. Staatliche
Ämter wurden von den Mudschahedin, die von 1992 bis 1996 Kabul
beherrschten, wie von den Taliban, die von 1996 bis 2001 fast 90
Prozent des Landes unter ihre Kontrolle gebracht hatten, an
Gefolgsleute als Pfründe für besondere Loyalität
oder herausragende kriegerische Leistungen vergeben.
Zweitens veränderten sich die
Identitätsbezüge der Bevölkerung. Während in
den 80er-Jahren der Islam als Gegenpol zum "heidnischen"
Kommunisten dominierte, bedingte die Politisierung kultureller
Muster während der 90er-Jahre eine gesellschaftliche
Fragmentierung. So waren alle Kriegsparteien bemüht, über
die Propaganda religiöser, ethnischer und regionaler
Identitäten Anhänger zu gewinnen und hierüber ihre
politische Existenz zu legitimieren.
Jedoch bewirkten Krieg, Vertreibung und
Flüchtlingsdasein auch eine Verschiebung des
Wahrnehmungshorizonts vom Dorf, Talschaft und Stamm auf die
nationale Ebene. So erblickten viele Afghanen in den anhaltenden
Kämpfen, in der Einmischung ausländischer Mächte und
in der fortschreitenden Fragmentierung des Landes eine Bedrohung
der eigenen Existenz. Dem wurde eine nationale Identität
entgegengesetzt, die vor allem an der Integrität des
afghanischen Territoriums festgemacht wurde. Zudem wurde der in den
Auseinandersetzungen des "Great Game" geborene Mythos der
afghanischen Freiheitsliebe gegen ausländische
Einmischungsversuche akzentuiert; und die "Loya Jirga" - die im
Idealbild im Konsens entscheidende Nationalversammlung - wurde der
Zerstrittenheit der Kriegsparteien
gegenübergestellt.
Diese Werte spielten auch für das
Vorgehen der internationalen Gemeinschaft bei dem Sturz der Taliban
und dem anschließenden Friedensprozess eine wichtige Rolle. So
vermied es die "Coalition against Terrorism" zunächst, in
Afghanistan mit Bodentruppen gegen die Taliban vorzugehen, um die
Freiheitsliebe der Afghanen nicht gegen sich aufzubringen. Auch
nahm die "Loya Jirga" im Friedensprozess eine herausragende Rolle
ein, um die Übergangsregierung zu legitimieren und eine
Verfassung zu verabschieden.
Dennoch steckt der Nation-Building-Prozess in
Afghanistan noch in seinen Anfängen. Wesentlich hierfür
ist, dass Staatlichkeit in den ersten Jahren nach dem Fall der
Taliban kaum aufgebaut werden konnte. So regierten Warlords und
lokale Potentaten das Land, hatte der afghanische Staat
beträchtliche Mühe, seine Entscheidungen durchzusetzen,
und wurde Hamid Karzai als der "Bürgermeister Kabuls"
verspottet. Aufgrund der fehlenden Kapazitäten im afghanischen
Staatsapparat konzentrierte sich der von der internationalen
Gemeinschaft angeschobene Wideraufbauprozess auf
Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Internationale Organisationen
warben zudem die wenigen qualifizierten Staatsangestellten ab, was
den afghanischen Staat weiter schwächte. Die Folge war, dass
NGOs und internationale Organisationen in den Provinzen die
bestimmenden Akteure waren, während der Staatsapparat hier zum
Spielball rivalisierender Kriegsfürsten verkam.
Ein Erstarken des Staats lässt sich erst
seit dem letzten Jahr beobachten, was vor allem darauf
zurückzuführen ist, dass die internationale Gemeinschaft
der Bedeutung eines Mindestmaßes an Staatlichkeit gewahr
wurde. Ausschlaggebend für dessen Bedeutungszuwachs war der
Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte. So konnte die Armee
2004 in verschiedenen Krisenherden im Land eingesetzt werden,
wodurch die Kriegsfürsten an Macht einbüßten.
Prominentestes Beispiel ist Ismail Khan, der noch 2003 nahezu
uneingeschränkt als "Emir von Herat" über Westafghanistan
herrschte. Nach Kämpfen mit konkurrierenden Warlords vermochte
es Hamid Karzai, Ismail Khan im September 2004 als Gouverneur von
Herat abzusetzen und ihn als Minister für Wasser und Energie
nach Kabul zu beordern. Trotz dieses staatlichen Bedeutungsgewinns
muss eingeräumt werden, dass der Staatsapparat nach wie vor
nur äußerst rudimentär funktioniert.
Wenngleich eine recht verschwommene nationale
Identität heutzutage in Afghanistan auszumachen ist, gibt es
unter den Afghanen kaum einen Konsens über die Zukunft ihres
Landes. So prallen Gesellschaftsvorstellungen frontal aufeinander,
die kaum miteinander zu vereinbaren sind: Moderne Auffassungen, die
eine hauchdünne Zivilgesellschaft propagieren, kollidieren mit
traditionellen Vorstellungen, die in der Regel unter Rückgriff
auf den Islam begründet werden und nicht nur von den Taliban
vertreten werden, die nach wie vor die afghanische Regierung
bekämpfen. Der Spagat, den Afghanistan vollbringen muss, um
einen nationalen Konsens zu erzielen, wurde besonders bei der
Verabschiedung der afghanischen Verfassung am 4. Januar 2004
deutlich: Afghanistan wurde zu einer Islamischen Republik, in der
alle Gesetze mit dem Islam in Einklang stehen müssen, aber
gleichzeitig Frauen vor dem Gesetz den Männern gleichgestellt
sind. Während ethnischen Minderheiten wie den Usbeken und
Belutschen auf Provinzebene Sprachsonderregelungen zugestanden
wurden und festgelegt wurde, dass die Nationalhymne in Paschtu
gesungen wird, ist Parteien eine ethnische Propaganda untersagt.
Inwiefern dieser Balanceakt im politischen Alltag bestand haben
wird, muss sich in der Praxis erst noch beweisen.
Besonders ethnische Identitäten
erschweren den Aufbau einer afghanischen Nation. So dominierten
Tadschiken aus dem Pandschirtal vom Fall der Taliban bis zu den
Präsidentschaftswahlen im September 2004 den Regierungsapparat
und kontrollierten Schlüsselministerien wie Außen-,
Innen- und Verteidigungsministerium; dies rief Ressentiments
innerhalb der anderen ethnischen Gruppen, vor allem der Paschtunen,
hervor. Demnach waren auch die Präsidentschaftswahlen von
Ethnizität geprägt: Hamid Karzai (55 Prozent) gewann
seine Stimmen überwiegend in den paschtunischen Provinzen
Süd- und Südostafghanistans, Yunus Qanuni (16,3) im
tadschikischen Nordosten, Rashid Dostum (10) im usbekischen Norden
und Mohammad Mohaqeq (11,7) bei den zentralafghanischen
Hazaras.
Das Problem des extremen Partikularismus
spiegelte sich auch in den Parlamentswahlen im September dieses
Jahres. Die Tatsache, dass über 2.500 Kandidaten antraten,
verdeutlicht die Zerrissenheit des Landes. Den meisten Kandidaten
ist kaum bewusst, welche Anforderungen an einen Parlamentarier
gestellt werden. So werden Parlamentssitze als persönliches
Gut und Statussymbol wahrgenommen, dagegen die damit verbundenen
Pflichten nicht gesehen. Vor diesem Hintergrund droht das Parlament
im schlimmsten Fall ein Hemmschuh der demokratischen Entwicklung
und im besten Fall bedeutungslos zu werden. Dennoch setzen die
Parlamentswahlen ein wichtiges Zeichen, da sie demonstrieren, dass
Afghanistan auf dem Wege in die politische Normalität
ist.
Die Politik des neuen Afghanistans unter
Hamid Karzais Führung baut darauf auf, die verschiedenen
Interessengruppen zu integrieren. Wie einst der afghanische
König Zahir Schah in den 1960er-Jahren bindet daher Hamid
Karzai Vertreter der wichtigsten ethnischen, regionalen und
religiösen Gemeinschaften in seine Regierung ein. Wenn Hamid
Karzai mit dieser Politik Erfolg haben sollte, dürfte er zum
Symbol eines geglückten Nationenbildungsprozess
avancieren.
Conrad Schetter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum
für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität
Bonn.
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