Margarete Wiest
Vorstoß ins ideelle Vakuum
Zum Verhältnis von Religion und
Nation
Seit mehr als 20 Jahren stellen Forscher einen globalen Trend
zur Rückkehr der Religionen fest. Darunter wird zum einen eine
erneuerte Religiosität im privaten Bereich, zugleich aber auch
eine zunehmende Politisierung der Religionen verstanden. Letztere
fand ihren Ausdruck sowohl in der Rolle, die die Kirchen einiger
mittelosteuropäischer Länder bei der Ablösung der
kommunistischen Herrschaft 1989/90 spielten, als auch im Wirken so
genannter Befreiungstheologen in Südamerika sowie vor allem im
Aufschwung des Islamismus in Nordafrika, dem Nahen Osten und
Südostasien.
Hinzu kommt, dass seit Anfang der 90er-Jahre eine Reihe
religiös verbrämter Konflikte neu aufbrach, die die These
vom "Kampf der Kulturen" beziehungsweise "Kampf der Religionen" zu
nähren schienen. Auffällig ist, dass viele dieser
Konflikte mit Prozessen des Staatszerfalls und der gescheiterten
Nationenbildung oder des Neuaufbaus von Nationalstaaten
einhergingen. Das gilt für die kriegerischen
Auseinandersetzungen in Ex-Jugoslawien und dem postsowjetischen
Raum ebenso wie für die Unruhen in Indonesien, die
Bürgerkriege in einigen afrikanischen Ländern oder den
Kampf um die politische Herrschaft in Afghanistan und dem Irak.
Vor diesem Hintergrund gewinnt das Verhältnis von Religion
und Nationenbildung an Brisanz. Zugleich betrifft diese Frage auch
das Projekt der europäischen Einigung. Inwieweit eine
entstehende europäische Identität auf einem christlichen
Fundament beruhen kann oder soll, wird spätestens seit einem
möglichen Türkei-Beitritt heftig diskutiert.
Historische Untersuchungen zur Rolle der Religion bei der
Bildung der europäischen Nationen belegen, wie unterschiedlich
diese ausfallen konnte: Je nachdem ob die Nation nur eine oder
mehrere Religionen oder Konfessionen umfasste, ob die Nation ihre
politische Eigenständigkeit gegen einen anderen Staat mit
einer anderen Religion/Konfession erkämpfen musste, ob die
religiösen Strukturen leicht "nationalisiert" werden konnten
oder ob die Konfession - wie die katholische - an ein Zentrum
gebunden war, das außerhalb der Verfügungsgewalt des
Nationalstaats lag - all dies prägte im Einzelfall das
Beziehungsmuster zwischen Religion und Staat. Dennoch lassen sich
ausgehend von der europäischen Geschichte einige allgemeine
Schlussfolgerungen ziehen.
So zeigt die europäische Entwicklung, dass die Religion vor
allem in den Fällen eine Rolle spielte, in denen sich Nationen
nicht im Rahmen eines gemeinsamen Staatswesens formierten.
Während in Westeuropa die Staatsbildung der Nationenbildung
vorausging, mussten viele Völker Mittel- und Osteuropas ihre
nationale Identität ohne Besitz eines gemeinsamen Staats
beziehungsweise gegen den Staat entwickeln, in dem sie lebten.
Daher begründeten sie ihre Nationen zumeist nicht
staatspolitisch, sondern kulturell. In solchen "Kulturnationen"
konnte die Religion eine wesentlich bedeutsamere Rolle als in den
westeuropäischen "Staatsnationen" spielen. Schließlich
war der geteilte Glaube - neben einer gemeinsamen Sprache,
Herkunftsmythen und Gebräuchen - nicht selten zu einem
zentralen Baustein der Kultur geworden. Und als solcher konnte er
eine wichtige integrative Funktion erfüllen: die Nation
zusammenhalten, vor allem im Krisenzeiten.
Dies zeigt das Beispiel der polnischen und jüdischen Nation
eindringlich. So stellte der Katholizismus während der Zeit
der polnischen Teilungen einen wichtigen gemeinsamen Bezugspunkt
dar, der das Überleben der Nation vor dem Hintergrund von
Russifizierungs- und Germanisierungsversuchen sicherstellte.
Während im polnischen Fall die Kirche ein wichtiges, aber nur
ein kulturelles Element neben anderen bildete, stellt die
jüdische Nation eine primär religiös definierte
Nation dar. Verstreut über unzählige Staaten konnte nicht
die Sprache, sondern letztlich nur der gemeinsame Glaube das
entscheidende vereinigende Band liefern.
Ein weiterer Faktor, der erklärt, weshalb die Religion
mitunter im Nationenbildungsprozess eine bedeutende Rolle spielen
kann, liegt darin, dass sie von den Eliten als politische Ressource
instrumentalisiert werden kann. Das wiederum hängt damit
zusammen, dass die Nationenbildung stets einen Prozess der Ein- und
Ausgrenzung darstellt. Die entscheidende Frage lautet: Wer
gehört der Nation an? Dies birgt gerade in Ländern, die
multiethnisch oder multireligiös strukturiert sind,
beträchtliches Konfliktpotential in sich.
Dabei scheint es den staatspolitisch begründeten Nationen
leichter zu fallen, verschiedene ethnische und religiöse
Gruppen zu integrieren; denn hier gibt der Wille des Einzelnen, der
Nation anzugehören, den Ausschlag. Anders in "Kulturnationen",
wo die vermeintlich "objektiven" Faktoren Hürden darstellen,
die der Einzelne nicht überwinden kann. Er gehört der
Nation an oder nicht - ob er will oder nicht.
Die Religion kann in solchen Situationen zu einem wichtigen
Moment des Ausschlusses werden. Dabei handelt es sich zumeist nicht
um einen Kampf der Religionen, wie oftmals fälschlicherweise
postuliert wird, sondern die Religion wird von den politischen
Eliten als Ressource instrumentalisiert: Mit ihrer Hilfe lassen
sich die Massen mobilisieren, vermeintliche Feinde identifizieren
und die eigene Herrschaft legitimeren. Das ließ sich deutlich
während der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan
beobachten.
Bisher wurde die Religion als kulturelle und politische
Ressource betrachtet - und damit als etwas, das von einer Nation
leicht vereinnahmt werden kann. Die Religion ist jedoch weit mehr
als das: Sie stellt ein Glaubenssystem mit universalem
Geltungsanspruch dar. Sie ist transzendental und transnational. Und
damit bildet sie immer auch eine Alternative zum Nationalismus und
dessen angestrebtem Ziel des Nationalstaats.
In Europa wurde dieses Konkurrenzverhältnis durch die
Säkularisierung zugunsten der Nation entschieden. Indem sich
Religion und staatliche Macht in zwei voneinander unabhängige
Sphären spalteten, konnte die Nation zur primären
Loyalitätsebene der Bevölkerung aufsteigen. Viel wurde
darüber diskutiert, inwieweit die europäische Erfahrung
der Säkularisierung als Voraussetzung für erfolgreiche
Nationenbildung verallgemeinert werden darf. Sie darf! Dabei ist
aber zum einen zu bedenken, dass dies keine vollständige
institutionelle Trennung von Staat und Religion bedeutenden muss.
Laizistische Systeme finden sich selbst in den europäischen
Nationalstaaten nur selten. Unbedingt muss jedoch eine klare
Autonomie der politischen Sphäre gewährleistet sein.
Zweitens muss in Betracht gezogen werden, dass dieser Prozess in
Europa mehrere Jahrhunderte in Anspruch nahm und teils
äußerst konfliktbeladen verlief. Dies mahnt, die
Aussichten von Nationenbildung in vormodernen beziehungsweise sich
gerade erst modernisierenden Gesellschaften realistisch
einzuschätzen: als einen Prozess, der lange Zeit dauern kann
und dessen Ende offen ist.
Davon zeugen die Entwicklungen in Nordafrika, dem Nahen Osten
oder Südostasien. Der Aufstieg des Islam als politische Kraft
stellt in dieser Region sowohl Folge als auch Ursache unvollendeter
Nationenbildung dar. Folge, da die Religion nur allzu leicht in das
ideelle Vakuum stoßen konnte, das von dem Versuch der Eliten,
einen Nationalismus von oben zu kreieren, zurück geblieben
war. Dieser Nationalismus konnte seine eigentliche Aufgabe, die
Bevölkerung zu integrieren, nicht erfüllen. Er blieb
daher ebenso wie der Nationalstaat - aus der Erbmasse der
Kolonialzeit übernommen - ein "Transplantat ohne Wurzeln", wie
der Politologe Bassam Tibi schrieb.
Dass die Religion zunehmend an die Stelle der Nation tritt, hat
auch damit zu tun, dass in der durch Modernisierung und
Globalisierung ausgelösten Identitätskrise das Interesse
an den Herkunftstraditionen und damit an der Religion zunimmt. Denn
diese bietet im Rückgriff auf Tradiertes Halt und stellt einen
Gegenentwurf zu dem als fremd empfundenen westlichen Modell von
Säkularisierung und Modernisierung dar. Der Aufstieg der
Religion wiederum belastet den Nationenbildungsprozess;
schließlich erschwert er den dazu nötigen
Säkularisierungsprozess.
Von außen sind die Prozesse der Nationenbildung und
Säkularisierung nur schwer zu steuern. Das bezeugen die
Entwicklungen in Afghanistan oder dem Irak. Zwar können mit
dem Verfassungsdesign institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen
werden. Letztlich stellen Nationenbildung und Säkularisierung
jedoch Entwicklungen dar, die aus der Gesellschaft selbst
hervorzugehen haben. In diesem Zusammenhang von Nation- oder gar
Religion-Building als vermeintlich schnell zu verwirklichende
außenpolitische Handlungsoptionen zu sprechen, ist
gefährlich und naiv.
Dr. Margarete Wiest ist wissenschaftliche Assistentin an der
Universität Regensburg.
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