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Cyrus Salimi-Asl
Mit Tamerlan in die Zukunft
Nationenbildung in Zentralasien und dem
Südkaukasus
Sie sind jung, sie sind unabhängig und
haben fast alles, was sie brauchen: die ehemaligen südlichen
Sowjetrepubliken Kasachstan, Usbekistan, Aserbaidschan und
Armenien. Seit 14 Jahren sind sie vier neue Nationen, die sich
heute um die Festigung und Entwicklung ihrer souveränen
Staaten kümmern müssen. Es sind keine "failed states" wie
Irak oder Haiti, dafür funktionieren sie zu gut. Es gibt
handlungsfähige Regierungen, Armeen, Eisenbahnen,
Industrieanlagen, Telefonnetze, Bildungs- und Gesundheitssysteme,
Zeitungen und Fernsehsender. Dafür hapert es aber mit
demokratischer Legitimation der Machthaber und starken
zivilgesellschaftlichen Gegenkräften. Und überall
grassieren Nepotismus, Klientelismus, Personenkult und
Korruption.
Kasachstan beispielsweise rangiert nach dem
Korruptions-Index von Transparency International aus dem Jahr 2004
auf dem 122. Platz von 145 untersuchten Ländern, Aserbaidschan
sogar auf dem 140. Platz. Zum Vergleich: Deutschland steht an 15.
Stelle - was eigentlich auch schon schlimm genug ist.
Als die vier südlichen Sowjetrepubliken
1991 selbstbewusst ihre Unabhängigkeit erklärten, galt es
zunächst zu improvisieren. Die Armenier konnten zumindest
historisch auf ein antikes Königreich zurück-blicken.
Nomadenvölker wie die Kasachen hingegen kannten nie einen
eigenen Staat; und die Khanate Buchara, Kokand und Chiwa waren
ebenfalls keine modernen Nationalstaaten. Wer in Zentralasien
lebte, kannte keine Grenzen, sondern nur unendlich erscheinende
Weite. Heute indes vermint Usbekistan seine Landesgrenzen, aus
Angst vor wem? Kasachstan und Usbekistan treiben den Prozess der
nationalen Identität am entschiedensten voran. Beide schufen
Gründungsmythen, die die gegenwärtige Staatswerdung als
historische Vollendung einer bereits in der Vergangenheit angeblich
existierenden (Kultur-)Nation sehen.
Usbekistan hat kurzerhand ausgerechnet, oder
bezeichnenderweise, Tamerlan (1336 - 1405) zum Nationalhelden
erklärt. Der als blutrünstiger Tyrann verrufene Herrscher
- bei der Eroberung der iranischen Stadt Isfahan sollen nach
Angaben der Chronisten rund 70.000 Menschen massakriert und ihre
Schädel zu Türmen aufgehäuft worden sein - gilt den
Usbeken nun qua Verordnung als ihr Spiritus Rector. In Taschkent
thront seine überlebensgroße Statue auf jenem Platz, auf
dem sich einst Lenin und Stalin als überlebensgroße
Standbildnisse vom Volk huldigen ließen.
Doch wie will man in Zentralasien
"Usbekisches" von "Iranischem" oder "Arabischem" messerscharf
trennen? Der für die Region typische Synkretismus speist sich
aus Einflüssen verschiedener Kulturen: Iraner, Chinesen,
Griechen, Araber, Türken, alle haben hier ihre Spuren
hinterlassen. Tamerlan war mongolischer Abstammung, auch wenn er
auf dem Gebiet des heutigen Usbekistans, in Shahrisabz, geboren
wurde. Manche Kasachen machen nun sogar Dschinghis Khan den
Mongolen streitig. Dass die wichtigsten "iranisch-tadschikischen"
Städte Zentralasiens, Samarkand und Buchara, heute in
Usbekistan liegen, ist ja lediglich Ergebnis der Stalinschen
Nationeneinteilung in Zentralasien: Divide et impera!
Der Umgang mit Minderheiten spielt bei jeder
Staatsgründung eine wichtige Rolle, insbesondere in
Zentralasien, wo kein Staat ethnisch homogen ist: Russen und
Usbeken leben in allen zentralasiatischen Republiken; Tadschiken in
Usbekistan, Kasachen und Kirgisen im benachbarten China (Xinjiang)
und Uiguren nicht nur in China, sondern auch in Kasachstan und
Kirgistan.
Besser stehen Armenien und Aserbaidschan da,
wo die Titularbevölkerung mehr als 90 Prozent der
Gesamtbevölkerung ausmacht. Das Staatsvolk ist also ethnisch
fast deckungsgleich mit der Bevölkerung. In Usbekistan stellt
die Titularnation immerhin noch über 80 Prozent der
Bevölkerung, in Kasachstan jedoch gerade einmal knapp die
Hälfte - bei rund 30 Prozent Russen, die vor allem im Norden
und Nordosten des Landes leben.
Die kasachische Regierung war somit
weitsichtig, als sie nach der Unabhängigkeit das Idealbild
einer kasachstanischen Nation entwarf, in der sich alle Nationen
wiederfinden sollten: Kasachen wie Russen, zwangsangesiedelte
Wolga-Deutsche wie Ukrainer, Polen wie Uiguren. Doch die
Realität sieht anders aus. Junge Russen sagen ganz offen, dass
sie sich als Russen fühlen und nach Moskau blicken. Die
Wolga-Deutschen haben in den vergangenen Jahrzehnten stets ihre
Sonderrolle gelebt, insbesondere als aus Deutschland
beträchtliche Zuschüsse flossen. Der Anteil beider
Minderheiten ist indes dank einer stark anhaltenden Auswanderung
beträchtlich gesunken. Von rund einer Million Wolga-Deutschen
bei der Unabhängigkeit vor 14 Jahren sind etwa nur noch
300.000 im Land geblieben; Tendenz fallend.
Die propagierte "Kasachstanisierung"
läuft letztlich auf eine kaum verhüllte Kasachisierung
hinaus; in den Schlüsselpositionen sind in den vergangenen
Jahren systematisch Russen gegen Kasachen ausgewechselt worden -
auch weil viele Elite-Russen das Land verlassen haben. Unter
Polizisten und Soldaten sind Angehörige der russischen
Minderheit selten geworden. Mit der Durchsetzung der kasachischen
Sprache als Hauptsprache sind viele Minderheiten, die des
Kasachischen nicht mächtig sind, von zahlreichen Posten
schlichtweg ausgeschlossen. Auf die Sprache als Symbol nationaler
Unabhängigkeit und Selbstbestimmung legen die neuen
unabhängigen Staaten freilich ein besonderes Augenmerk
für ihre Identitätsstiftung. In Armenien und
Aserbaidschan enthielten dagegen schon die Sowjetverfassungen einen
Passus, der die Sprachen der Titularnation zur Staatssprache
erhob.
Deutlicher Ausdruck dieser Politik, mit der
sowjetischen Vergangenheit zu brechen, ist die Änderung von
Orts- und Straßenbezeichnungen. Kasachstans Hauptstadt Astana
hieß früher Zelinograd. Der Lenin-Prospekt in Almaty
nennt sich heute Freundschafts-Prospekt (Dostyk auf Kasachisch).
Präsident Nasarbajew hat die massive Umbenennung in der
Vergangenheit kritisiert, weil dies ein Grund dafür wurde, die
russische Minderheit zur Ausreise zu veranlassen. Heute munkeln die
Kasachen, dass die zentrale Almatiner Furmanow-Straße, die
auffälligerweise noch immer den Namen eines sowjetischen
Funktionärs trägt, für Nasarbajew selbst reserviert
sei.
"Die Identitätsfrage ist ganz wichtig
für die innere Stabilität der neuen unabhängigen
Staaten", meint auch Wulf Lapins, zuständig für
Zentralasien und den Südkaukasus bei der
Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Dass die Territorien der Staaten
nicht klar voneinander abgegrenzt sind und sogar ihre
Integrität auf dem Spiel stehe, schwäche die jungen
Republiken, zumal sie keine Anbindung an historische Vorbilder
moderner Nationalstaatlichkeit haben, wie beispielsweise die
baltischen Staaten.
Die sowjetische Grenzziehung führte zu
kuriosen Ergebnissen: So ist das Batken-Gebiet (Oblast) in
Kirgistan durchsetzt mit sieben Enklaven, die zu Usbekistan und
Tadschikistan gehören; die Straße von Taschkent nach
Samarkand läuft 40 Kilometer über kasachisches
Territorium. Lapins sieht auch das regionale Umfeld nicht eben
positiv, mit Nachbarn wie Russland, China oder Iran, die für
das Gegenteil von Demokratie und Rechtstaatlichkeit stehen. "Die
Balten hatten Paten wie Polen oder Finnland, die ihnen geholfen
haben beim Transformationsprozess", ergänzt Lapins.
Stabil ist Aserbaidschan mit Sicherheit,
nicht zuletzt dank seines verstorbenen "Monarchenpräsidenten"
Heidar Alijew, der 2003 von seinem Sohn Ilcham beerbt wurde. Heidar
Alijew drängte den Einfluss der Armee zurück, handelte im
Nagorno-Karabach-Konflikt den Waffenstillstand mit Armenien aus und
öffnete das Land ausländischen Investoren. Die
Erdölstadt Baku boomt, doch der Großteil der
Bevölkerung lebt weiter in Armut. Alijew sorgte auch für
innere Sicherheit: Nach offiziellen Zahlen des Innenministeriums
ist die Verbrechensrate von 1992 bis 1998 um 36 Prozent
gefallen.
In der Außenpolitik korrigierte Alijew
den extrem pro-türkischen Kurs seines Vorgängers
Elchibey. Ohne die USA als strategischen Partner aufzugeben, setzt
sein Sohn Ilcham nun verstärkt auf gutnachbarschaftliche
Beziehungen zu Russland und Iran. Immerhin ist fast ein Viertel der
70-Millionen-Bevölkerung Irans Aseri, ein Großteil lebt
rund um die Stadt Täbris. Alijew möchte die Iraner, die
sehr gute Beziehungen zu Armenien pflegen, im
Nagorno-Karabach-Konflikt zumindest ein Stück weit auf die
eigene Seite ziehen. Religiöser Einfluss aus dem Iran ist
durch die Annäherung nicht zu befürchten. Aserbaidschan
gibt sich betont säkular. Untersuchungen belegen, dass 90
Prozent der Bevölkerung die Politik von jedwedem
religiösen Einfluss freihalten wollen.
Der Einfluss radikal-islamischer Gruppen auf
die politische Stabilität kann sowohl für Zentralasien
als auch für Aserbaidschan als gering eingestuft werden.
Islamistische Gruppen wie die "Islamische Bewegung Usbekistans"
(IMU) oder die in ganz Zentralasien aktive "Hizb-ut-Tahrir" (HT)
haben viel von ihrer Stärke und Anziehungskraft verloren. Die
IMU gilt heute praktisch als zerschlagen, nachdem ihre
Anführer Tohir Juldaschew und Dschumaboi Namangani
mutmaßlich ums Leben gekommen sind. Die HT hat zwar viele
Sympathisanten, vor allem in Usbekistan, aber die Idee eines
zentralasiatischen Kalifats hat sich nicht als Magnet erwiesen. Die
aus dem Nahen Osten (gegründet 1953 in Jordanien) importierte
Bewegung verfügt über keine konsistente soziale Basis und
wird praktisch überall von den Behörden verfolgt.
Großzügige Schätzungen gehen von einer
Mitgliederzahl von 10.000 Personen in ganz Zentralasien
aus.
"Der Islam stellt keine Gefahr für die
Region dar", bestätigt Wulf Lapins. Er könne ein Problem
in Usbekistan werden, aber die Gefahren durch den so genannten
radikalen Wahabismus werden seiner Meinung nach
"überschätzt und instrumentalisiert". Usbekistans
allmächtiger Staatspräsident Islam Karimow weist den
Westen seit Jahren auf die Gefahren hin, die der Region durch
islamistische Strömungen drohten. Die USA und amerikanische
Think-Tanks haben diese Sichtweise in weiten Teilen übernommen
und reden bisweilen vom "Kampf um die Köpfe" und der Bedrohung
amerikanischer Interessen durch radikal-islamische
Kräfte.
Armenien muss sich erst noch aus einer
beträchtlichen Isolation befreien. Das Land hat weder Zugang
zum Schwarzen noch zum Kaspischen Meer und ist in der Region
politisch blockiert: im Westen von der Türkei, die ihre
Grenzen zu Armenien geschlossen hält, im Osten von
Aserbaidschan. Wichtigster strategischer Verbündeter und
größter Handelspartner bleibt Russland. Im Süden hat
sich der Iran als zuverlässiger Partner erwiesen.
Präsident Kotscharjan und seine Machtelite stützen sich
vor allem auf die engen Beziehungen mit Moskau; die Demonstrationen
vom Frühjahr 2004 waren keine Gefahr für die politische
Stabilität, zeugen aber von der Unzufriedenheit der
Bevölkerung über soziale Ungerechtigkeit, Korruption und
Misswirtschaft. Dabei gilt Armenien der Europäischen
Entwicklungsbank (EBRD) als das das fortgeschrittenste Land der GUS
bei den Marktreformen. Die geographische und politische Isolation
bremst jedoch das Wachstum. Dazu macht sich der negative Einfluss
der US-Politik in Armenien bemerkbar: Ein armenisches
Chemieunternehmen wurde von US-Sanktionen betroffen, weil es in den
Iran exportieren wollte. Die USA missbilligen auch den Bau einer
Gas-Pipeline vom Iran nach Armenien, die Ende 2006 fertig sein
soll. Dennoch sucht Armenien eine engere Bindung an die USA, um
sich aus der Abhängigkeit von Russland zu lösen, und
liebäugelt ebenso wie Aserbaidschan sowohl mit dem EU- als
auch mit dem NATO-Beitritt.
Als kontraproduktiv erweist sich das
amerikanische Bestreben, den Einfluss Irans einzudämmen und
eine Achse Moskau-Teheran zu verhindern. Dabei sind Russland und
der Iran die einzigen beiden Staaten, die sowohl an den
Südkaukasus als auch an Zentralasien grenzen, also
natürlicherweise an stabilen politischen Verhältnissen
und gutnachbarschaftlichen Beziehungen interessiert sind. Eine
amerikanische Politik, die darauf abzielt, den Iran zu isolieren,
Chinas wachsenden Einfluss zurückzudrängen und Russlands
Rolle einzunehmen, zwingt Kasachstan wie Usbekistan, Armenien und
Aserbaidschan zu einem komplizierten Spagat - mit zum Teil
negativen Auswirkungen auf die Innenpolitik. Der Schulterschluss
der USA mit Usbekistan ist ein beredtes Beispiel: Gedeckt durch den
"Kampf gegen den Terror" konnte Präsident Karimow sein
repressives Regime weiter festigen.
Cyrus Salimi-Asl ist Orientalist bei der Deutschen Gesellschaft
für Auswärtige Politik, Berlin.
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