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Iris Muth
Den Menschen fehlt es an Vertrauen
Die OSZE und die Rechtssysteme in den
postsowjetischen Staaten
Alle neu gegründeten Staaten, die aus der
ehemaligen Sowjetunion hervorgingen, haben sich für die
Schaffung eines marktwirtschaftlichen, demokratischen und
rechtsstaatlichen Systems ausgesprochen. Der damit eingeleitete
komplexe Prozess der Transformation dauert bis heute fort und
vollzieht sich in den postsowjetischen Ländern generell unter
schwierigeren Bedingungen als in Mittelosteuropa.
Nation Building, verstanden als die Schaffung
einer Nation durch Staatsgewalt, erlangt ihre demokratische
Berechtigung und ihre langfristige politische Stabilität erst
durch die Schaffung von Gesetzen und rechtsstaatlichen
Institutionen, die ausschließlich auf der Grundlage der
Gesetze handeln und damit dazu beitragen, das geschriebene Recht
zum gelebten zu machen. Dem Recht kommt beim Nation-Building in den
postsowjetischen Staaten eine doppelte Funktion zu: Es soll zum
einen die Grundlage und den Rahmen für eine demokratische
Gesellschaft innerhalb eines rechtsstaatlichen Systems setzen, zum
anderen soll es den Übergang von einer Plan- zu einer
Marktwirtschaft unterstützen.
Erst das Recht ermöglicht die
Vorhersehbarkeit und Kontrolle staatlichen Handelns, das formelle
Gleichberechtigung und Freiheit aller Menschen innerhalb
festgesetzter Rahmen garantieren soll. Zur Umgestaltung des
Wirtschaftssystems soll es beitragen, indem es günstige
Rahmenbedingungen für den marktwirtschaftlichen Verkehr
festlegt und ihre Umsetzung sichert. Hierfür reichen
Reformgesetze - mögen sie qualitativ noch so hochwertig sein -
alleine nicht aus. Maßgeblich ist vielmehr, neben der
Verabschiedung angemessener Gesetze auch eine geeignete
Infrastruktur von Gerichten, Behörden, Unternehmen und
Interessenvertretungen zu schaffen, die dafür Sorge tragen,
dass das Recht aktiv angewandt wird.
Doch auch gute Gesetze und rechtsstaatlich
geschaffene und funktionierende Institutionen reichen für ein
erfolgreiches Nation Building alleine nicht aus. Entscheidend ist
vielmehr darüber hinaus, dass die in dem Staat lebenden
Menschen, sich als eine gemeinsame Nation sehen und die
ausgeübte Staatsgewalt als für sich verbindlich
anerkennen. Dies beinhaltet zwangsläufig, dass sie ihre Rechte
und Pflichten kennen, sich in ihrem Handeln daran orientieren und
sich im Zweifelsfalle zur Aufklärung oder Streitentscheidung
an die gesetzlich vorgesehenen Organe wenden. Genau an diesem
notwendigen Bewusstsein und Vertrauen der Bevölkerung in
staatliche Strukturen fehlt es in allen postsowjetischen Staaten.
Die meisten Menschen misstrauen den staatlichen Stellen und der
Justiz zutiefst. Sie sind überzeugt, dass trotz aller
Reformen, weiterhin die willkürlichen Interessen der jeweils
Mächtigen das objektive Recht verdrängen. Die
vollständige Umsetzung des Rechts und damit auch der Prozess
des Nation-Buildings ist damit nachhaltig
beeinträchtigt.
Doch bereits bei der Frage, wie das
geschriebene Recht aussehen soll, gehen die postsowjetischen
Staaten teilweise unterschiedliche Wege. Zwar sind sich alle darin
einig, dass die Gesetze helfen sollen, die jeweiligen Staaten in
den Weltmarkt zu integrieren. Doch in der Frage, wie umfassend
modernisiert und wie stark mit sowjetischen Rechtstraditionen
gebrochen werden soll, streiten sich die Geister. Ein anschauliches
Beispiel hierfür bietet die umfassende Zivilrechtskodifikation
der 90er-Jahre in den postsowjetischen Staaten, die sich
richtungsweisend für weitere Gesetze auswirkt und die
wesentliche Grundlage für den Privatrechtsverkehr bietet.
Während die Zivilgesetzbücher (ZGBs) der Russischen
Föderation, Kasachstans, Usbekistans, Kirgistans,
Tadschikistans, Weißrusslands und Armeniens ursprünglich
als Übergangsgesetze konzipiert wurden und etliche
Übergangs- regelungen übernommen haben, war das
georgische ZGB mit seiner konsequenten marktwirtschaftlichen
Orientierung Vorbild für die Zivilgesetzbücher
Turkmenistans und der Mongolei.
Die unterschiedlichen Wege bei der
Zivilrechtsgestaltung sind insbesondere bei der Schaffung des
Zivilgesetzbuches der "Gemeinschaft unabhängiger Staaten"
(GUS) diskutiert worden, das als Modellgesetz von der
Interparlamentarischen Versammlung in St. Petersburg erarbeitet
wurde. Diese Debatte hat zwei grundlegend unterschiedliche
Ansätze der Rechtsreform verdeutlicht, die sich auf das Nation
Building auswirken. So haben die Befürworter der
Übergangsregelungen, wie der russische Rechtswissenschaftler
Makovsky betont, dass das Gesetzbuch spiegeln müsse, was im
realen Leben passiere; für die Zukunft geschaffene Gesetze
würden dementsprechend nicht funktionieren. Vertreter des
"georgischen Experiments", allen voran der ehemalige Justizminister
und spätere Präsident des Obersten Gerichts Georgiens,
Lado Chanturia, stellten hingegen den Wert langfristig geltender
Gesetze in den Vordergrund, da diese eine größere
rechtliche Sicherheit und Widerspruchsfreiheit gewährleisteten
und den anstehenden marktwirtschaftlichen Reformen besser gerecht
würden.
Das Zivilgesetzbuch Georgiens gilt
mittlerweile als Vorbild in anderen postsowjetischen Staaten, an
denen sich sogar russische Reformer orientieren. Unter georgischen
Juristen gilt das Zivilgesetzbuch als das einzige umfassende
Reformgesetz, das wirklich funktioniert.
Dass sich nun ausgerechnet aus georgischen
Regierungskreisen Stimmen vernehmen lassen, nach denen dieses von
georgischen und deutschen Experten gemeinsam erarbeitete
Prestigeobjekt sobald wie möglich reformiert werden soll,
zeigt, mit welchen Schwierigkeiten die Rechtsreform in den jungen
Staaten konfrontiert wird. Gerade weil das Rechtsbewusstsein in der
Bevölkerung noch nicht tief verankert ist; gerade weil es noch
keine starken rechtsstaatlichen Institutionen gibt; gerade weil
sich die Justiz noch nicht gegenüber der exekutiven Gewalt
behaupten kann, sind diese jungen Staaten anfällig für
die politische Instrumentalisierung des Rechts. Hinter den Rufen
nach grundlegender Reform des Zivilrechts in Georgien steht nicht
nur das Streben der neuen georgischen Regierung, sich von allem zu
verabschieden, was unter der vorherigen Regierung unter dem
Staatspräsidenten Shewardnadze geschaffen wurde. Dahinter
steht sicher auch der politische Wille, den neuen amerikanischen
Verbündeten zu gefallen.
Seit der so genannten "Rosenrevolution" vom
November 2003 zeichnet sich ein deutlicher Richtungswechsel in der
georgischen Rechtsreform ab. So wurde beispielsweise mit der
Verfassungsänderung im Februar 2004 das Jury-Gerichtssystem
nach ameri- kanischem Vorbild eingeführt und die Rolle der
Laienrichter im Justizverfahren gerstärkt. Diese
Verfassungsänderungen wurden aufgrund politischen Drucks im
Schnellverfahren vollzogen - gegen die Bedenken georgischer
Juristen, nach deren Auffassung sich derartige anglo-amerikanische
Rechtsmodelle kaum mit der georgischen Rechtstradition in Einklang
bringen lassen würden. Auch würde die weitere
Einführung von Laienrichtern und die Verdrängung der
professionellen Rechtsprechung nach kontinental-europäischem
Modell eine weitere Quelle für Korruption darstellen und das
dringend benötigte Vertrauen der Bevölkerung in eine
objektive, nur auf dem Gesetz beruhende Rechtsprechung behindern.
Die Gründe für die stärkere Orientierung an dem
anglo-amerikanischen Rechtssystem sind sicher mannigfaltig und
hängen eng zusammen mit der politischen Entwicklung in
Georgien sowie den strategischen Interessen der USA an der
christlich geprägten Kaukasusrepublik, durch die Erdöl
und Erdgas vom Kaspischen Meer in die Türkei fließt und
nochmehr fließen soll.
Vor dem Hintergrund, dass etliche
internationale Organisationen versuchen, die jungen Staaten bei
ihrer Rechtsreform zu unterstützen, stellt sich die Frage, wie
diese dazu beitragen können, das Recht und damit auch das
Nation Building nicht zum Spielball kurzfristiger politischer
Interessen des eigenen und fremder Staaten zu machen.
Die Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist aktiv am stabilen Nation
Building beteiligt. Die OSZE verfolgt vor allem das Ziel,
Sicherheit in der gesamten OSZE-Region, die alle postsowjetischen
Staaten mitumfasst, zu schaffen. Dies soll nicht zuletzt durch die
Stärkung demokratischer, rechtsstaatlicher Strukturen und der
Förderung der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschehen. In
diesem Rahmen ist sie auch bei der Rechtsberatung in den jeweiligen
Ländern beteiligt.
Indem ihre Rechtsberater alle 55
Mitgliedsländer der OSZE vertreten, unter ihnen die USA,
Russland und alle EU-Staaten, sind sie grundsätzlich über
den Vorwurf erhaben, sie würden lediglich außenpolitische
Interessen ihres jeweiligen Landes vertreten. Auch bietet die
Beteiligung der OSZE an der Rechtsreform den Vorteil, dass sie die
Beratungsleistungen zwischen verschiedenen nationalen Gebern
koordinieren kann. Sie kann auf die Einhaltung internationaler
OSZE-Verpflichtungen, die von allen Mitgliedsstaaten anerkannt
wurden, pochen und sich im Zweifel an der Stärkung der
Rechtssicherheit und Stabilität im Land orientieren, ohne auf
bestimmte nationale Modelle Rücksicht nehmen zu müssen.
Bei Verletzung der OSZE-Standards kann sie politischen Druck auf
das jeweilige Mitglied ausüben. Dies geschieht generell in
einem ersten Schritt über ihre Missionen in den Ländern,
die in den süd-osteuropäischen, zentralasiatischen und
kaukasischen Ländern bestehen. Helfen die bilateralen
Gespräche oder Schreiben der OSZE-Mitarbeiter vor Ort nicht
weiter, wird grundsätzlich der Permanente Rat in Wien mit
Vertretern aus allen Mitgliedsstaaten informiert und, sofern
für erforderlich gehalten, die Sache diskutiert und der
Regelbrecher ermahnt.
Das stärkste politische Mittel der OSZE
ist der Ausschluss des jeweiligen Mitglieds aus der internationalen
Organisation. Mit dem Ausschluss wird dem Staat nicht nur die
Durchsetzung seiner nationalen Interessen auf internationaler Ebene
insgesamt erschwert, er verliert auch automatisch alle
Begünstigungen, welche die OSZE dem Staat zur Schaffung
stabiler Verhältnisse bietet. Hierzu gehören nicht nur
Unterstützungen beim Aufbau demokratischer Institutionen und
Stärkung der Menschenrechte, sondern auch wirtschaftliche
Aufbauhilfen und politische Unterstützung in Krisensituationen
und bei politischen Schwierigkeiten mit dem jeweiligen
Nachbarstaat.
Allerdings sind alle Maßnahmen der
Missionen in den Ländern an ihr einjähriges Mandat
gekoppelt. Hierdurch werden langjährige Planungen erschwert.
Eine reibungslose und an den Bedürfnissen orientierte
Unterstützung wird ferner durch das Einstimmigkeitsprinzip der
OSZE erschwert. So kann es passieren, wie Anfang 2005 geschehen,
dass aufgrund des Vetos eines Mitglieds das Jahresbudget nur mit
monatelangen Verzögerungen verabschiedet wird - mit negativen
Auswirkungen auf die Durchführung von
Unterstützungsmaßnahmen.
Diese Probleme haben bilaterale
Rechtsberatungsorganisationen grundsätzlich nicht. So
beschloss beispielsweise das Deutsche Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Dialog mit
der GTZ als eines der ersten bilateralen Geber bereits Anfang der
90er-Jahre, die so genannten neuen Partnerländer im Osten bei
der Rechtsreform langfristig zu unterstützen. Die GTZ startete
ihr erstes überregionales Rechtberatungsprojekt für alle
zentralasiatischen und kaukasischen Staaten mit einer Laufzeit von
fünf Jahren. Das Projekt wurde seither jeweils um zwei Jahre
weiter verlängert. Durch diese sehr lang Laufzeit konnte eine
gewisse personelle und planungstechnische Kontinuität erreicht
werden. Die Methodik des Projektes ist geprägt durch einen
nachfrageorientierten Ansatz, hohe Expertise und dem
Rechtsvergleich aus Erfahrungen in allen postsowjetischen Staaten.
Im Rahmen des Projektes wurde ein Netzwerk aus Justiz, Verwaltung
und wissenschaftlichen Instituten, zwischen den Partnerländern
und Deutschland aufgebaut.
Mögen die Ansätze, Gestaltungs- und
Einflussmöglichkeiten ausländischer Berater von
internationalen und bilateralen Organisationen auch unterschiedlich
sein, indem beispielsweise bei ersteren grundsätzlich der
politische Aspekt, bei letzteren der technische Aspekt im
Vordergrund steht, so lässt sich insgesamt doch feststellen,
dass ausländische Berater sicherlich positiv auf den
Rechtsreformprozess in den postsowjetischen Staaten einwirken
können. Dies setzt jedoch voraus, dass das beratende Land
ausländische Unterstützung wirklich will. Besteht dieser
politische Wille, können ausländische Berater nicht nur
ihr Wissen und ihre Erfahrung über Gesetzgebungstechnik
einfließen lassen. Dies scheint besonders wichtig in
postsowjetischen Staaten zu sein, da in diesen traditionell weniger
Wert auf langfristig und objektiv auslegbare Gesetze gelegt wird,
sondern Gesetze auch zur Umsetzung kurzfristiger politischer
Interessen dienen sollen. Diesem Ziel entsprechend wurden und
werden Gesetze oft so unbestimmt formuliert, dass sie
willkürlichen Auslegungen Raum lassen. Dies wirkt sich
kontraproduktiv auf die angestrebte Schaffung von Rechtssicherheit
aus. Darüber hinaus kann ausländische Expertenmeinung und
insbesondere der Hinweis auf internationale Standards dazu
beitragen, Konflikte zwischen betroffenen Gruppen und Generationen
zu neutralisieren. Schließlich hat sich gezeigt, dass
ausländische Experten auch bei der Erarbeitung von
Kompromissvorschlägen den Prozess positiv beeinflussen
können. Eine solche Unterstützung setzt eine enge
Zusammenarbeit und Vertrauen zwischen den Partnerländern und
ausländischen Beratern voraus.
Bei allen positiven
Unterstützungsmöglichkeiten ausländischer
Rechtsberater darf jedoch nicht übersehen werden, dass sich
ihre Aufgabe in einem hochsensiblen Politikbereich bewegt. Eine
solche Beratung wirft grundlegende Fragen nach ihrer
Legitimität auf. Die dabei zu treffenden Entscheidungen
über das zukünftig geltende Recht fallen häufig in
einen Bereich, der nach klassischem Demokratieverständnis der
nationalen Souveränität vorbehalten sein sollte. Eine
schlichte Übertragung von westlichen Rechtsmodellen
verstieße nicht nur gegen den Souveränitätsgedanken,
sondern wäre bei Nichtberücksichtigung der kulturellen
Rechtstraditionen auch kaum erfolgversprechend.
Iris Muth ist Human Rights Officer der OSZE in Tiflis,
Georgien.
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