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Barbara Minderjahn
Chauvinismus und Clanstrukturen
Georgien: Aus dem Land der
Rosenrevolution
Um zu erklären, wie ihr Land entstanden ist, erzählen
die Georgier gerne folgende Legende: "An dem Tag, als Gott das Land
an die Menschen verteilte, kamen die Georgier zu spät. Zuerst
zürnte ihnen der Herr. Doch dann begannen die Georgier zu
feiern. Ihr Wein, ihre Fröhlichkeit und ihr Gesang
versöhnten Gott, und er schenkte ihnen das Land, das er sich
selbst vorbehalten hatte." Georgien - ein Paradies auf Erden? Die
Realität sieht ernüchternder aus. In dem kleinen
Kaukasusstaat leben viele Menschen seit Jahren in Armut. Die
Infrastruktur des Landes, das heißt die Straßen, die
Gas-, Strom- und Wasserversorgungssysteme und die Häuser
verrotten zusehends.
In den Städten sind ganze Häuserzeilen vom Einsturz
bedroht. Das historische Zentrum von Tiflis hat die Regierung in
den letzten zwei Jahren zwar etwas aufpoliert. Der Rustaveli, die
Prachtstraße der Hauptstadt, wurde erst vor kurzem neu
asphaltiert, die öffentlichen Gebäude und die alten
Geschäfte renoviert. Doch abseits der Vorzeigemeile
verfällt der einstige Glanz weiter, und auf dem Land sieht die
Lage noch schlimmer aus. Schlaglöcher und tiefe Furchen
erschweren die Fortbewegung auf den Hauptverkehrsstraßen, so
dass manche Orte selbst im Sommer nur noch mit Geländewagen
erreichbar sind. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Konflikte
und Auseinandersetzungen zwischen den ethnischen und politischen
Minderheiten des Landes. Sowohl in Abchasien, einer Region im
Nordwesten des Landes, als auch in der östlich davon gelegenen
Provinz Südossetien herrscht nach wie vor ein latenter
Bürgerkrieg. Der Staat kontrolliert nur ein Teil des von ihm
beanspruchten Territoriums. Kriminalität und bewaffnete Gangs
machen sich breit.
Auslöser für Georgiens Misere war das Ende der
Sowjetunion. Als der Macht- und Steuerungsapparat im Kreml
zusammenbrach, kollabierten auch die Wirtschaftsstrukturen in der
gesamten Region. Der Staat, der jahrelang die Produktion, den
Verkauf und die Warenlogistik kontrolliert hatte, hörte damals
von einem auf den anderen Tag auf zu existieren, und es gab
niemanden, der ihn so schnell ersetzen konnte. In dieser Situation
begann ein Verteilungskampf um Macht, Geld und Einfluss, der bis
heute die Grundlage für Armut, Bürgerkrieg und
Kriminalität legte. Doch mittlerweile sind rund 15 Jahre
vergangen. Warum bekommt Georgien die Probleme noch immer nicht in
den Griff? Boris Chochiev, Minister für besondere
Angelegenheiten der autonomen Region Südossetien, sieht es so:
"Georgien hat es doch als Staat nie gegeben. Das war doch teilweise
Bestandteil des russischen Reiches. Und auch jetzt gibt es Georgien
als Staat im eigentlichen Sinne nicht mehr. Georgien, das ist
heutzutage Tiflis, Kutaisi und der zentrale Teil des Landes. Aber
bald wird alles vollständig auseinander fallen."
Abspaltungsversuche
Boris Chochievs Einschätzung ist höchst brisant und
politisch motiviert. Die Südosseten wollen sich ja gerade von
Georgien abspalten und suchen nach einer Legitimation für ihre
politische Absicht. Dennoch steckt hinter der Äußerung
eine ernstzunehmende Frage, nämlich die nach dem
Verhältnis zwischen Bürger und Nation. Die
Südosseten und Abchasen sind in dieser Hinsicht
Extremfälle - sie betrachten sich nicht als Georgier und
wollen eine eigene Nation gründen. Aber auch bei den anderen
Georgiern ist das Nationalgefühl nur auf einer
oberflächlichen Ebene ausgeprägt. Sie betonen zwar oft,
wie sehr sie ihr Land lieben und wie stolz sie auf alles sind, was
georgisch ist - Wein, Gesang, ihre Sprache, die wunderschöne
Landschaft, selbst das verschmutzte Leitungswasser schmeckt
angeblich besser als an jedem anderen Ort. Aber die Menschen
definieren sich nicht als Georgier, also als Bevölkerung eines
gemeinsamen Staates, sondern vor allem als Swanen, Kacheten,
Samegrelen, Imereten oder noch kleinteiliger als eine Familie aus
Kutaisi, Batumi, Gori oder Mestia. Der eigene Clan, das heißt
die Familie, die Verwandten und die Freunde sind dementsprechend
wichtiger als die Nation.
Diese Haltung macht es schwer, ein funktionierendes Staats- und
Wirtschaftssystem aufzubauen. Als der Rustaveli in Tiflis Anfang
des Jahres neu geteert werden sollte, musste die Regierung den
Boulevard mit Bussen abriegeln, damit niemand auf die Baustelle
fährt. Einfache Straßenschilder oder Absperrungen
hätten nicht gereicht. Die Menschen hätten sogar
über den Bürgersteig versucht, auf die Fahrbahn zu
gelangen, nur um ihren gewohnten Weg nutzen zu können. Ob die
Straße dadurch noch vor Fertigstellung wieder zerstört
worden wäre, hätte nur wenige interessiert. So muss der
Staat ein Vielfaches der Anstrengung aufbringen, um auch nur kleine
Fortschritte zu erzielen. Oft gelingt es ihm nicht. Wie sollen
Politiker beispielsweise ein unabhängiges Rechtswesen
durchsetzen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung dieses
Rechtssystem nicht respektiert, wenn viele in Streitfällen gar
nicht erst zum Gericht gehen, sondern die Probleme lieber direkt -
durch Bestechung oder per Faustrecht - lösen und sich niemand
dagegen wehrt? Oder wie will ein Richter einen Sachverhalt
klären, wenn selbst die Klägerseite bei der Verhandlung
nicht vor Gericht erscheint? Die Beispiele sind vielfältig.
Egal ob beim Recht, im Gesundheitssystem, beim Umweltschutz oder in
der Wirtschaft - ein Gemeinwohl lässt sich nur dann
etablieren, wenn auch die Bürger dafür kämpfen. Doch
sowohl das Vertrauen in die staatlichen Institutionen als auch der
nationale Gemeinschaftssinn sind nicht besonders ausgeprägt,
und das hat auch traditionelle Gründe.
Auf dem heutigen Gebiet Georgiens lebten schon seit
Jahrtausenden unterschiedliche ethnische und religiöse
Bevölkerungsgruppen und verschiedene Groß- und
Kleinfürsten mal mehr, mal weniger friedlich zusammen. Schon
damals kämpften die Angehörigen dieser Clans um Einfluss,
Macht, Reichtum und Besitz. Zwar gab es auch damals schon Zeiten,
in denen Georgien von einem einheitlichen Staatswesen regiert
wurde. Doch in anderen Epochen zerfiel das Gebiet wieder in
getrennte Herrschaftsgebiete. Assyrische und uratische Chroniken
erwähnen beispielsweise vor mehr als 3.000 Jahren das
Diaochische Königreich im heutigen Ostgeorgien. Zwischen dem
6. und dem 4. Jahrhundert vor Christus blühte in Westgeorgien
das legendäre Königreich "Kolchis". Zeitgleich entstand
im Osten Georgiens das Königreich Iberien. Vereint wurden die
Gebiete dann von einem Pontier namens Kwastele Ason. Und sein
Nachfolger, der Iberer Parnawas, regierte 65 Jahre lang einen
Staat, der den größten Teil des heutigen Georgiens
umfasst.
Die Idee, Georgien als bürgerliche Nation zu begreifen, kam
erst im 19. Jahrhundert auf und zwar just zu der Zeit, als Russland
das Land besetzt hatte. Reiche georgischen Familien schickten
damals ihre Söhne an die europäischen Universitäten,
wo sie mit dem Geist der Romantik, dem Liberalismus und dem
Nationalismus in Berührung kamen. Es entstand eine
intellektuelle Schicht, die ein nationales Selbstbewusstsein
entwickeln und unter dem Motto "Heimat, Sprache und Glaube" die
georgische Kultur wiederbeleben wollte. Doch den Georgiern blieb
nicht viel Zeit, ihr Nationalgefühl zu entwickeln. Die
Revolution von 1917 und die Errichtung der Sowjetunion beendete die
kurze nationalstaatliche Epoche.
Balanceakt
Mehr als alles andere muss es dem jungen georgischen Staat heute
also darum gehen, Bürgerengagement und verantwortungsvolles
Nationalbewusstsein zu etablieren. Weil in Georgien viele
Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten leben,
darf er dabei allerdings die Grenze zum Nationalismus nicht
überschreiten. Mit diesem Balanceakt tut sich der junge
georgische Präsident Michail Saakaschwili schwer. Der
Rosenrevolutionär hat es zu seinen Zielen erklärt, das
Nationale in Georgien zu stärken. Vor anderthalb Jahren, kurz
nach seiner Ernennung zum Präsidenten, tauschte er
dementsprechend die alte Flagge gegen eine neue, mit nationalen
Symbolen besetzte Fahne aus und führte eine bewegende
Nationalhymne ein. Einige Monate später vertrieb er die
korrupten regionalen Machthaber der autonomen georgischen Republik
Adscharien und unterwarf die Region der staatlichen Kontrolle aus
Tiflis. In diesem Sommer gründete er so genannte Sommercamps,
in denen vor allem Jugendliche der armenischen,
aserbaidschanischen, südossetischen, abchasischen und anderer
Minderheiten georgisches Staatsbewusstsein und Respekt für die
Vielfalt Georgiens erlernen sollten. All das soll der nationalen
Einheit und dem Gemeinwohl dienen. Doch um
Verantwortungsbewusstsein und bürgerliches Engagement für
die Gemeinschaft zu entwickeln, brauchen die Menschen die
Erfahrung, dass ihnen der Staat hilft und nicht schadet. Genau das
Gegenteil befürchten aber viele in Anbetracht der
jüngsten Maßnahmen. In der Regierungszeit von Michail
Saakaschwili hat die staatliche Willkür weiter zugenommen und
die demokratische Freiheit abgenommen. Journalisten beklagen sich
über Repressalien, Gefangene über Folter. Gleichzeitig
ist die Angst vor Unterdrückung bei den zahlreichen ethnischen
und religiösen Minderheiten im Land gestiegen.
Die neue Flagge beispielsweise beinhaltet das Wappen der alten
georgischen Herrscherfamilie und ist besetzt mit fünf roten
Kreuzen. Doch elf Prozent der Georgier sind Muslime. Für sie
ist das Kreuz nicht ein Zeichen von Gemeinsamkeit und Integration,
sondern von Verfolgung ihres eigenen Glaubens. Auch die
Sommercamps, die für viele Jugendliche eine willkommene
Ablenkung von Armut und beengten Lebensverhältnissen
darstellen, beobachten viele Eltern mit Sorge. In den Camps werden
die Kindern nicht nur auf Georgien, sondern vor allem auch auf den
Präsidenten und seine Anhänger eingeschworen.
Darüber hinaus sind sie militärisch straff organisiert
und dienen, georgischen Zeitungen zufolge, zur Vorbereitung auf
eine militärische Ausbildung. Falsche Wege aber führen
zum falschen Ziel. Nationalismus könnte Georgien
endgültig auseinander brechen lassen. Nation-Building muss auf
Vertrauen in den gemeinsamen Staat fußen, nicht auf
Chauvinismus oder gar illegitime Gewalt.
Barbara Minderjahn arbeitet als freie Journalistin in Köln
bereist häufig Osteuropa.
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