Henriette Sachse / Monika Schlicher
Die UNO als Geburtshelfer
Ost-Timor: Drei Jahre nach der
Unabhängigkeit
Ich bin sehr stolz, wenn ich sehe, wie unsere Flagge gehisst
wird", sagt die 21-jährige Studentin Nerinha Pumpido Pereira
bei der Feier zum dritten Jahrestag der Unabhängigkeit, "aber
ich bin auch unglücklich, weil so viele Menschen noch immer
hungern. Sie brauchen Nahrung, sie brauchen Geld und
Arbeitsmöglichkeiten, um leben zu können." Am 20. Mai
2002 wurde Osttimor in die Unabhängigkeit entlassen. Nach 24
gewaltreichen Jahren als 27. Provinz Indonesiens konnten die
Ost-Timoresen endlich Frieden und Freiheit willkommen heißen.
Große Hoffnungen lagen in der Luft - auch genährt von der
Präsenz der Vereinten Nationen, die nach dem Referendum 1999
über Verbleib oder Unabhängigkeit von Indonesien und den
verheerenden Zerstörungen durch pro-indonesische Milizen
Ost-Timor befriedeten und eine internationale
Übergangsregierung aufbauten.
Bei der Frage nach Erfolg oder Misserfolg von Nation-Building
spielen immer mindestens zwei Kontexte eine Rolle: Erstens die
Nation als "imagined community" im Sinne einer Gemeinschaft mit
verbindenden Werten und Identitäten. Zweitens steht
Nation-Building als Synonym für Friedenskonsolidierung, also
für einen Übergang von einem gewaltsamen Konflikt hin zu
einem stabilen Friedensprozess.
Im Falle von Ost-Timor kann man bisher nicht von einer Nation im
ersteren Sinn sprechen: Vielmehr besteht die gesamte Insel Timor
aus vielen verschiedenen Ethnien mit mehreren Sprachen. Die
Trennung zwischen Ost- und West-Timor vollzog sich entlang von
kolonialen Grenzen: West-Timor gehörte zum holländischen
Kolonialreich und wurde erst spät Indonesien zugeschlagen,
während der östliche Teil der Insel von den Portugiesen
kolonisiert wurde.
Nach deren Rückzug und der Intervention durch Indonesien
1975 war der Widerstand gegen die neue Fremdherrschaft
identitätsstiftend. Dieses Gemeinschaftsgefühl schlug
2002 nach der Erlangung der Unabhängigkeit in Euphorie um und
bestärkte Hoffnungen auf einen friedlichen und prosperierenden
Staat - was wiederum die Menschen einte. Aber es bleiben
offensichtliche Identitätsprobleme: Sei es das Sprachwirrwarr,
was vor allem jüngere Menschen, die unter indonesischer
Herrschaft aufgewachsen sind, politisch ausgrenzt. Amtssprachen
wurde Portugiesisch; das lokale Tetum, Indonesisch und Englisch
wurden nur als Arbeitssprachen beibehalten. Portugiesisch wird aber
vom überwiegenden Teil der Bevölkerung weder gesprochen
noch verstanden. Oder seien es die Enttäuschungen über
den ausbleibenden sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung seit der
Unabhängigkeit. Diese Faktoren spielen bei der
Friedenskonsolidierung eine wichtige Rolle. Denn Armut, Hunger und
Arbeitslosigkeit sind weder hilfreich bei der Suche nach
Identität und Nationalgefühl, noch stärken sie
Friedensprozesse. Im Gegenteil. Nach Schätzungen der Weltbank
besteht die Gefahr, dass sich diese Unzufriedenheit weiter
verstärken und mittelfristig zu einem destabilisierenden
Faktor in beiden Prozessen führen könnte.
Der Aufbau eines demokratischen Staatswesens benötigt Zeit,
zumal Osttimor nicht auf Erfahrungen zurückgreifen kann. Die
Vereinten Nationen haben Geburtshilfe geleistet und während
der Übergangsverwaltung (1999 - 2002) das Fundament für
einen demo- kratischen Staat gelegt. Aber bis heute sind die
staatlichen Institutionen insgesamt schwach geblieben. Deshalb hat
die UNO Anfang 2005 ihre Unterstützungsmission in Osttimor
(UNMISET) für ein weiteres Jahr mit einer verkleinerten
Mission verlängert (UNOTIL). Sie umfasst 45 Berater zur
Unterstützung jener staatlichen Institutionen, die als
kritisch eingestuft werden, wie Justiz und Sicherheit. So gibt es
derzeit keinen einzigen ost-timoresischen Richter. Alle haben die
Portugiesisch-Prüfung nicht bestanden und müssen nun
weitere drei Jahre auf die Schulbank. Nicht ausreichend war auch
der Beitrag der UN-Übergangsverwaltung in der Ausbildung
ost-timoresischer Fachkräfte für den Verwaltungs- und
Regierungsapparat. Mit dem Mangel an qualifiziertem Personal
kämpft der junge Staat in vielen Bereichen.
Eine schwierige Frage ist die nach der Eingliederung von
Exil-Ost-Timoresen. Premierminister Mari Alkatiri und andere
Regierungsmitglieder sind bei vielen Ost-Timoresen nicht beliebt,
da sie sich während der indonesischen Besatzungszeit in
Mozambique aufhielten. Erst nach dem Referendum 1999 kehrten sie
zurück und besetzten umgehend Schlüsselpositionen in der
Fretilin - der Partei, die maßgeblich den
Unabhängigkeitskampf geführt hat, und nun die
Regierungspartei stellt. Dies führte zu Spannungen. So
fühlen sich viele der aktiven Kämpfer im Stich gelassen,
denn sie leben heute zumeist in Armut, da es bisher keine Renten
für sie gibt, während die heimgekehrten Exilanten, die
nichts riskiert haben, in satten Staatspositionen sitzen.
Die meisten Ost-Timoresen leben von 55 US-Cent am Tag. Und das,
obwohl die Regierung der Armutsbekämpfung hohe Priorität
eingeräumt hat. Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung haben
keine Arbeit. Gerade viele junge Menschen - die Hälfte der
rund 925.000 Einwohner ist unter 15 Jahre alt - sind arbeitslos und
ohne Zukunftsperspektive. Das ist eine Zeitbombe. Zugleich erlebt
Ost-Timor einen enormen Babyboom: Zehn Kinder pro Frau sind nicht
unüblich. Das Land hat weltweit die höchsten Geburten-,
aber auch die höchsten Mütter- und
Kindersterblichkeitsraten.
Der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung blieb auch deshalb aus,
da sich die Vertragsunterzeichnung über die Ausbeutung der
Ölvorkommen mit Australien durch strittige Fragen zum
Grenzverlauf in der Timor-See weiter hinzieht. Auch ein privater
Sektor hat sich bislang kaum entwickelt. Ausländische
Investitionen fehlen. Die Infrastruktur ist mangelhaft,
insbesondere außerhalb der Hauptstadt Dili. Der politische
Prozess der Demokratisierung stagniert völlig. Im Gegenteil:
In undemokratisch anmutenden Äußerungen unterstreicht
Mari Alkatiri den absoluten Führungsanspruch seiner Partei
(Fretilin). Kritik wird mit unverhältnismäßig
repressiven Maßnahmen begegnet.
Indonesien ignoriert alle Haftbefehle
Wichtiger Teil bei Prozessen der Friedenskonsolidierung ist der
Umgang mit der belasteten Vergangenheit. Die UNO hatte in Ost-Timor
ein gemischtes Sondergericht eingerichtet, um die Verantwortlichen
für die schweren Menschenrechtsverbrechen 1999 zu ermitteln
und anzuklagen. Von den 391 Angeklagten, darunter auch hohe
Militärs aus Indonesien, verbüßen nur 87 eine
Haftstrafe. Indonesien ignoriert die Haftbefehle und liefert weder
Milizenführer noch indonesische Militär- und
Polizeiangehörige aus. Bei der Bevölkerung ist der
Eindruck ungleicher Behandlung entstanden: Die kleinen Fische
sitzen im Gefängnis, die Hauptverantwortlichen gehen straffrei
aus.
Ergänzend zur Strafverfolgung wurde 2002 eine Wahrheits-
und Versöhnungskommission für die minderschweren
Verbrechen eingerichtet. Sie hat in Ost-Timor breite Akzeptanz
gefunden und die Hoffnung gestärkt, dass mit der Heilung alter
Wunden ein wichtiger Beitrag zum Neuaufbau der Gesellschaft
geleistet wird. Ein wesentliches Verdienst der Wahrheitskommission
war es, dass die Menschen bei nationalen Anhörungen erstmals
die Gelegenheit hatten, über die Verbrechen und Ereignisse zu
reden und sich so auch gegenseitig zu informieren. Damit wurde den
Opfern eine öffentliche Anerkennung ihrer Leiden
ermöglicht. "Dies ist ein Beitrag zum Aufbau der Nation, damit
wurde auch Geschichtsbewusstsein geschaffen", so Santina Fernandez
von der lokalen Frauenorganisation Fokupers. Die Kommission hat
über 7.500 Aussagen von Opfern, Zeugen und Tätern
über Menschenrechtsverletzungen aufgenommen und mehr als 1.400
Versöhnungsprozesse unter Einbindung lokaler Tradition in den
Gemeinden durchgeführt. Doch die Erwartung, dass die
Täter schwerer Verbrechen vor Gericht gestellt würden und
dass die Gerichte den Stab da übernähmen, wo die
Wahrheitskommission aufgehört hat, wurde bisher nicht
erfüllt.
"Das größte Hindernis für die Versöhnung ist
das Fehlen von Gerechtigkeit", beschreibt eine Frau aus Dili die
Stimmung in der Gesellschaft. Die Signale der Regierung, sich
insbesondere für das Wohl der Menschen einzusetzen -
politisch, wirtschaftlich, sozial und juristisch - sind zu schwach,
um Vertrauen und Identität zu stiften. Ohne Vertrauen in die
Zukunft fällt es jedoch schwer, ein positives Bild für
den Staat Ost-Timor zu zeichnen - ganz abgesehen von einer
Nation.
Henriette Sachse ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim
Deutschen Bundestag; Dr. Monika Schlicher arbeitet bei
Watch-Indonesia e.V.
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