Antje Mißbach
Friede im Haus des Friedens?
132 Jahre Unabhängigkeitskampf der
indonesischen Provinz Aceh
"Kembali ke ibu pertiwi" heißt auf Deutsch
so viel wie "Zurück ins Mutterland" und meint eigentlich
nichts anderes als die Abkehr von regionalistischem Ungehorsam und
die folgsame Wiedereinordnung unter das Zepter des indonesischen
Einheitsstaates. Bereits wenige Tage nach dem verheerenden Tsunami
Ende 2004 forderte Theo Sambuaga, Kommissionsvorsteher der
Abteilung Sicherheit und Verteidigung des indonesischen Parlaments,
die unmittelbare Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen mit der
"Gerakan Aceh Merdeka" (Bewegung Freies Aceh, GAM).
Während bis zu diesem Zeitpunkt nur
wenige je von Aceh gehört hatten, rückte diese
indonesische Provinz im äußersten Norden Sumatras - von
der Fläche nicht größer als die Schweiz und mit kaum
mehr als 4 Millionen Einwohnern - mit einem Mal ins Interesse der
Medien. Neben den verheerenden Folgen der Flutwelle wurde auch ein
seit fast 30 Jahren anhaltender Krieg "ent-deckt". Dessen Existenz
war bisher weitgehend durch Pressezensur und Zutrittsverbote von
der indonesischen Zentralregierung verschwiegen worden. Nur wenige
Länder beziehungsweise Medien interessierten sich für
diesen Krieg, obwohl er der am längsten andauernde
Separationskonflikt der Welt ist.
Der Fall Aceh stellt in vielerlei Hinsicht
etwas Besonderes dar, nicht nur als ein von außen gesteuerter
Konflikt, sondern vor allem wegen seiner antagonistischen
Einbindung in das multi-ethnische Indonesien. Der Aufbau dieses
Staats, der sich zum Ziel setzte, mehrere Dutzend unterschiedliche
ethnische Gruppen in einem riesigen, kaum überschaubaren
Territorium ohne föderale Strukturen zu integrieren, war und
ist keine leichte Aufgabe. Zumal das Erbe des Kolonialismus schwer
auf die Psyche der Nation lastet und schon die
Unabhängigkeitserklärung für Spannungen
sorgte.
In den letzten 132 Jahren - seit dem
Zeitpunkt der ersten westlichen Invasion in Aceh (1873), als die
Niederländer versuchten, ihre kolonialen Besitztümer in
Südostasien territorial zu einigen - gab es in Aceh mehr Krieg
als Frieden. Auf den mehr als 30 Jahre andauernden antikolonialen
Widerstand folgte nach einer kurzen Zeit der Befriedung 1942 der
Einmarsch der Japaner und daraufhin ein Bürgerkrieg zwischen
den ehemaligen Widerstandskämpfern und den Kollaborateuren mit
den Japanern. Von 1953 bis 1962 schloss sich Aceh der "Darul
Islam"-Bewegung (Haus des Islam) an. Grundsätzlich handelte es
sich dabei nicht um eine Sezessionsbewegung, sondern um einen
bewaffneten Protest gegenüber der Zentralregierung, die nach
Meinung der Aufständischen in religiösen Angelegenheiten
viel zu halbherzig war. Der den Acehnesen anhaftende Ruf des
religiösen Fanatismus wurde damit untermauert, wenngleich sich
Acehs Einwohner bis heute gegen diesen Vorwurf wehren. Was
Außenstehende als Fanatismus bezeichnen, nennen sie selbst
Pietismus. All diese Aufstände hatten ihre spezifischen
Ursachen.
Loslösung vom Einheitsstaat
Das jüngste blutige Kapitel setzte 1976
mit der Formierung der GAM ein, die seither sowohl mit
militärischen als auch mit diplomatischen Mitteln für die
Loslösung aus dem indonesischen Einheitsstaat kämpft.
Ursachen dafür finden sich in der wirtschaftlichen Ausbeutung,
der infrastrukturellen Vernachlässigung und der kulturellen
Bevormundung. Im Laufe der Zeit wirkte die Perpetuierung von Rache
als eigenständiger Faktor.
Der Widerstand der GAM unter Hasan di Tiro -
einem Spross aus einer berühmten acehnesischen
Gelehrtenfamilie, der lange Zeit in den USA als Geschäftsmann
lebte - lässt sich in drei Phasen einteilen: In den ersten
Jahren (1976 - 1979) gab es nur wenige Dutzend Anhänger, die
den Befehlen Tiros, der 1976 nach Aceh zurückgekehrt war,
Folge leisteten. Ihre Aktivitäten beschränkten sich auf
das Hissen der Flagge, Dschungelexpeditionen und sporadische
Überfälle auf Polizei- und Militärposten. Nach der
Niederschlagung durch das indonesische Militär flohen die
wichtigsten Anführer ins Ausland. Der Widerstand in Aceh kam
zum Erliegen. Vom schwedischen Exil aus koordinierte Tiro jedoch
den Widerstand weiter. Mitte der 80er-Jahre rekrutierte die GAM
hunderte Acehnesen, die in Libyen paramilitärisch ausgebildet
wurden. Ihre Rückkehr nach Aceh 1989 entfachte neue bewaffnete
Auseinandersetzungen, Counter-Guerilla-Maßnahmen blieben nicht
aus. Aceh wurde zur Sondermilitärzone erklärt. Amnesty
international berichtete von schweren Menschenrechtsverletzungen
von Seiten des indonesischen Militärs. Einschüchterungen
aller Art, willkürliche Erschießungen und
Vergewaltigungen als Mittel der Kriegsführung riefen tiefe
Rachegefühle unter der Bevölkerung hervor, die zuvor
nicht unbedingt die GAM unterstützt hatte. Auch nach dem
Zurück-drängen der Guerillas Anfang der 90er-Jahre
blieben die meisten Soldaten vor Ort. Viele zogen wirtschaftliche
Vorteile für sich aus ihrer jahrelangen
Anwesenheit.
Enttäuschte Hoffnungen
Nach dem Rücktritt von Präsident
Suharto im Mai 1998 hegten viele Acehnesen die Hoffnung, dass die
Gewalt ein Ende haben und ihnen nun Wiedergutmachung widerfahren
würde. Das Gegenteil trat ein. Es gab keine seriösen
Bemühungen um eine rechtliche Aufarbeitung der
Menschenrechtsverstöße. Mitte 1998 kam es erneut zu
gewalttätigen Konfrontationen zwischen den Guerillas und dem
Militär. Die GAM verzeichnet seither einen beträchtlichen
Zulauf, verfügt über bessere Ausstattung und eine
funktionstüchtigere Struktur als vorher, was nur aufgrund
ausländischer Finanzspritzen möglich ist. Diese dritte
Phase, die außerdem von zwei gescheiterten
Friedensbemühungen (2000 und 2002) gekennzeichnet ist, dauerte
bis vor kurzem an. Am 15. August 2005 wurde in Helsinki eine dritte
Friedenserklärung von exilierten GAM-Vertretern und
Repräsentanten der indonesischen Regierung unterzeichnet.
Inwieweit diese es vermag der Gewalt ein Ende zu bereiten, bleibt
indes offen.
Neben den bilateralen Verhandlungen im
Ausland zur Beendigung des Konfliktes, der mittlerweile etwa 12.000
Menschenleben gekostet hat, unternahm die indonesische Regierung
weitere Schritte. Unter Interimspräsident Bacharuddin Jusuf
Habibie, einem in der Adenauer-Ära in Aachen ausgebildeten
Zögling Suhartos, wurden 1999 zwei Dezentralisierungsgesetze
erlassen. Diese Bestimmungen übertrugen den Regionen mehr
Verantwortung in puncto staatliche Dienstleistungen und
implementierte einen Finanzausgleich zwischen den Regionen und der
Zentralregierung. Obwohl Aceh für die folgenden acht Jahre
eine 70-prozentige Gewinnbeteiligung an der Erdgasgewinnung
zugesprochen wurde, vermochten diese Gesetze insgesamt wenig an dem
sich intensivierenden Konflikt zu ändern. Von den
wirtschaftlichen Vorteilen profitierten am ehesten raffgierige
Eliten. Das deutlichste Beispiel ist der Fall des Gouverneurs von
Aceh, Abdullah Puteh, der mittlerweile wegen Korruption im
Gefängnis sitzt.
Anfang 2002 trat ein Sonderautonomiegesetz
für Aceh in Kraft. Das beinhaltet neben kulturellen
Zugeständnissen wie der offiziellen Umbenennung Acehs in
Nanggroe Aceh Darussalam (arabisch: Haus des Friedens) auch die
Teileinführung der Scharia, wobei die Einführung
islamischer Jurisdiktion nie Teil der acehnesischen Forderungen
war.
Während die Post-Suharto-Regierungen
durchaus ein gewisses Interesse an einer friedlichen
Konfliktlösung hatten, obgleich ihre Bemühungen nicht
frei von erheblichen Defiziten waren, kann das nicht unbedingt von
den zwei Hauptakteuren des Krieges behauptet werden.
Die chronische Unterfinanzierung des
indonesischen Militärs ist nicht zuletzt dafür
verantwortlich, dass ein Teil der für die militärischen
Operationen notwendigen Finanzen selbst erwirtschaftet wird. Diese
Einkommen schaffenden Maßnahmen umfassen auch illegale
Bereiche wie Holzeinschlag in Naturschutzgebieten,
Schutzgelderpressungen und Drogenhandel. Umkehrschlüsse, dass
etwa das Militär seine lukrativen Geschäfte freiwillig
abtreten würde, sofern die Besoldung entsprechend sei, sind
nicht unbedingt zulässig.
Wirtschaftliche Interessen sind auch bei der
GAM zu finden. Neben Lösegeldern, finanziellen und materiellen
Zwangsabgaben der Bevölkerung und Zuwendungen aus dem Ausland
finanzieren sich die Guerillas auch durch Drogenhandel und
Schmuggel. Eine dritte Gruppe, die bisher analytisch weitestgehend
vernachlässigt wurde, sind die vom Militär engagierten
Milizen. Obwohl es kaum verlässlich Zahlen über ihre
Größe und Stärke gibt, ist anzunehmen, dass auch
ihre wirtschaftlichen Interessen am Konflikt nicht zu verkennen
sind.
In Folge der gescheiterten
Friedensinitiativen wurden die indonesischen Truppenkontingente in
Aceh massiv verstärkt. Nachdem im Mai 2003 der Notstand
ausgerufen wurde, konnte die GAM erheblich geschwächt werden.
Neben diesen militärischen Offensiven bemühte sich die
Regierung unter Megawati Sukarnoputri, der Tochter des ehemaligen
Staatsgründers Sukarno, in Schweden um die Auslieferung der
GAM-Exilregierung.
Im Zuge der Antiterrormaßnahmen wurde
Hasan di Tiro und seinen Vertrauten ein Bombenanschlag auf die
Börse in Jakarta zur Last gelegt. Aus Mangel an Beweisen
wurden die GAM-Anführer nach wenigen Tagen wieder entlassen.
Doch die inzwischen neu gewählte Regierung unter Susilo
Bambang Yudhoyono war noch längst nicht am Ende ihrer
diplomatischen Möglichkeiten angelangt. Im Oktober 2004 nahmen
Regierungsangehörige Kontakte zu Muzakkir Manaf, einem
wichtigen GAM-Kommandeur, in Kuala Lumpur auf und verfassten einen
geheimen Neun-Punkte-Plan. So gesehen kamen die neuen, offiziellen
Friedensverhandlungen nach dem Tsunami gar nicht überraschend.
Federführend bei den folgenden fünf Runden der
Friedensverhandlungen in Helsinki war der ehemalige finnische
Präsident Martti Ahtisaari und die von ihm gegründete
Crisis Management Initiative.
Zu den wichtigsten Punkten der
Friedensabsichtserklärung gehören: Demobilisierung, was
sowohl den Abzug von nicht organisierten Truppen aus Aceh als auch
eine vollständige Entwaffnung der GAM vorsieht; Amnestie der
GAM und Reintegration ihrer Kämpfer sowie eine mehrmonatige
Überwachung des Friedensprozesses durch Beobachter der EU und
ASEAN.
Unabhängigkeit durch die
Hintertür?
Obwohl die indonesische Verfassung und das
Wahlgesetz keine regionalen Parteien vorsehen, wurde der Forderung
der GAM nach politischer Partizipation und der Gründung
solcher Parteien stattgegeben. Von Kritikern wird bemängelt,
dass sich die GAM damit ein Hintertürchen geschaffen hat,
eines Tages doch noch - und zwar per Abstimmung - zur
Unabhängigkeit gelangen zu können. Ohnehin beinhaltet das
neue Vertragswerk viel Raum für unterschiedliche
Interpretationen. Solange das Ausland und vor allem die Geber- und
Helferorganisationen Interesse für die Region zeigen und das
Vorgehen kritisch beobachten, ist die Wahrscheinlichkeit nicht
gering, dass sich beide Seiten an die vereinbarten Regeln der
Friedenserklärung halten.
Antje Mißbach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der
Humboldt-Universität Berlin.
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