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Sabine Kurtenbach
Ein Staat ohne Gewaltmonopol
Kolumbien: Seit 200 Jahren im Krieg mit sich
selbst
Ein Aufschrei ging durch die kolumbianische
Presse als das Land in diesem Sommer auf der Liste gescheiterter
Staaten des US-amerikanischen "Endowment for International Peace"
auf Platz 14 zwischen Nordkorea und Simbabwe eingestuft wurde.
Kolumbiens Elite rühmt sich nicht nur gerne, in der
ältesten Demokratie Lateinamerikas zu leben, sondern sieht das
Land - bei allen Problemen - durch die Politik des aktuellen
Präsidenten \Álvaro Uribe auf gutem Weg, die
traditionelle Schwäche des kolumbianischen Staats zu
überwinden. Da passt es schlecht ins Selbstbild, wenn das Land
von außen so negativ bewertet wird.
Hintergrund der Einschätzung als
gescheiterter Staat ist vor allem die Tatsache, dass in Kolumbien
der älteste innerstaatliche Krieg Lateinamerikas stattfindet,
in dessen Rahmen sich verschiedene Guerillagruppen, zahlreiche
paramilitärische Verbände und die staatlichen
Sicherheitskräfte seit über 40 Jahren bekämpfen. Der
Krieg, der sich durch Phasen wechselnder Intensität und
regionaler Verbreitung auszeichnet und den bisher keine Seite
militärisch entscheiden konnte, zeigt, dass dem Land ein
grundlegendes Charakteristikum moderner Staatlichkeit fehlt - ein
staatliches Gewaltmonopol. Aber trotzdem greift die Einordnung als
gescheiterter Staat zu kurz, weil die Schwäche des
kolumbianischen Staats lange Zeit sehr funktional für die
Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo war.
Obwohl Kolumbien seit der Unabhängigkeit
von Spanien und dem Zerfall Großkolumbiens - das auch
Venezuela und Ecuador einschloss - immer wieder mit sich selbst im
Krieg lag, handelt es sich nicht um eine an und für sich
gewaltsame Gesellschaft. Gewalt wurde allerdings von der
kolumbianischen Oligarchie immer wieder zur klientelistischen
Integration der Bevölkerung funktionalisiert und
instrumentalisiert. Während in vielen anderen Ländern
Kriege - vor allem wenn sie nach außen geführt und
gewonnen wurden - der Entstehung eines nationalen Bewusstseins
dienten, bewirkten die internen Kriege in Kolumbien die Entstehung
von zwei Subkulturen entlang der parteipolitischen Organisation in
Liberale und Konservative. Die Einbeziehung breiter
Bevölkerungsgruppen in die inneroligarchischen
Auseinandersetzungen und der Zwang zur Parteinahme - im abstrakten
und konkreten Sinn des Wortes - spaltete das Land und
verstärkte die Einbindung der Bevölkerung entlang der
vertikalen, hierarchischen Sozialstrukturen. Ein Teil der aktuellen
Krise Kolumbiens besteht darin, dass sozialer Wandel, der
Zusammenbruch des Entwicklungsmodells und auch die anhaltende
Gewalt die Funktionalität dieser Struktur in den letzten
Jahrzehnten untergraben und aufgelöst haben.
Oligarchische Ordnung
Während die Schwäche des
kolumbianischen Zentralstaats im Kontext der oligarchischen Ordnung
einerseits funktional war, konnte der Staat der Gewalt
nicht-staatlicher Gruppen andererseits wenig entgegensetzen. In
einer Art Teufelskreis begünstigte dies wiederum die private
Ausübung der Gewalt - sei es für politische Ziele, sei es
aus kriminellen Motiven, sei es zur
"Selbstverteidigung".
In den 1980er-Jahren wurde die Krise dann im
Kontext der Ausbreitung von Drogenhandel und -produktion, von denen
beinahe alle gesellschaftlichen Gruppen in der einen oder anderen
Form profitierten, vollends sichtbar. Die symbiotische Verbindung
zwischen politischer, krimineller und sozialer Gewalt machte
Kolumbien zum weltweiten Spitzenreiter bei den Homicidraten (Morde
pro 100.000 Einwohner) und den Entführungen. Versuche, die
Krise über eine Modernisierung des politischen Systems (zum
Beispiel die Direktwahl der Bürgermeister seit 1985) oder
über Friedensgespräche zu lösen, verstärkten
die Gewalt und trugen zur Vervielfältigung der
Gewaltakteure.
Die paramilitärischen Gruppen, deren
zentrales Selbstverständnis das des "Staatsersatzes" und der
"Selbstverteidigung" gegen die bewaffnete Systemopposition der
Guerilla ist, haben seither die Dynamik der Gewalt maßgeblich
bestimmt. Sie haben den Friedensprozess der Regierung von
Andrés Pastrana (1998 bis 2002) mit der größten und
ältesten Guerillagruppe FARC (Revolutionäre
Streitkräfte Kolumbiens) durch eine gewaltsame Säuberung
ganzer Regionen von der Guerilla und deren vermeintlichen
Sympathisanten konterkariert. Auch der Widerstand der
traditionellen politischen und wirtschaftlichen Elite gegen
grundlegende Reformen und die Verkennung der politischen
Realitäten im Land auf Seiten der Guerilla trugen zum
Scheitern der Gespräche bei. Das Ergebnis war eine neuerliche
Eskalation der Gewalt, die die kolumbianische wie auch die
internationale Öffentlichkeit zunehmend als Anarchie
wahrnahmen. Hier hat die Rede vom Scheitern des kolumbianischen
Staats ihren aktuellen Bezug.
Vor dem Hintergrund der gravierenden Probleme
der öffentlichen (Un-)Sicherheit entstand aber auch eine
Gegenbewegung, die sich - ganz entgegen dem lateinamerikanischen
Trend - die Stärkung des Staats zum Ziel setzte. 2002 wurde
Álvaro Uribe bereits im ersten Wahlgang mit einem Programm der
Politik der "harten Hand" gegenüber den bewaffneten Gruppen
zum Präsidenten gewählt. Kern seiner Strategie war die -
bereits von Präsident Pastrana begonnene und von den USA,
Spanien und Großbritannien unterstützte - Stärkung
der staatlichen Sicherheitskräfte. Er erklärte bereits in
der ersten Woche nach seinem Amtsantritt am 7. August 2002 den
Zustand "innerer Unruhe", ein Ersatz für den 1991 in der
Verfassungsreform abgeschafften Ausnahmezustand, in dessen Rahmen
Exekutive und Militär Sonderrechte eingeräumt sowie Teile
der Bürger- und Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt
werden. Darüber hinaus verstärkte die Regierung vor allem
die sichtbare Präsenz von Polizei und Militär im ganzen
Land. Uribe kann sich hierbei auf eine große Popularität
vor allem in den Städten, bei den Eliten und der Mittelschicht
stützen. Die Bilanz dieser Politik nach drei Regierungsjahren
ist ambivalent: Zwar haben die staatlichen Sicherheitskräfte
in der militärischen Auseinandersetzung gegen die Guerilla
einige Erfolge erzielt, ob dies aber einen historischen Wendepunkt
darstellt oder eher eine konjunkturelle Entwick-lung ist,
lässt sich derzeit noch nicht beurteilen.
Erste Gespräche zur
Demobilisierung
Mit den paramilitärischen Gruppen nahm
die Regierung Uribe erstmals Gespräche zur Demobilisierung auf
und unterzeichnete verschiedene Abkommen. Der Prozess spiegelt
allerdings sowohl die Schwäche des kolumbianischen Staates
gegenüber diesen Gruppen, als auch den nur begrenzten Willen
der Eliten, mit den verbündeten Paramilitärs offen zu
brechen. Vor allem die fehlende strafrechtliche Verfolgung für
die von ihnen begangenen gravierenden Menschenrechtsverletzungen
bietet Anlass zu nationaler und internationaler Kritik.
Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung vor, sie
nütze den Prozess lediglich zur Legalisierung der von diesen
Gruppen gewaltsam erreichten politischen und wirtschaftlichen
Machtstellung. Neben diesen grundlegenden Defiziten weist die
Strategie der Regierung aber auch gravierende Probleme in Bezug auf
ihre Nachhaltigkeit auf: Sie ist in hohem Maße personalistisch
auf die Popularität des derzeitigen Präsidenten
gegründet und hängt finanziell bisher von der weiteren
externen Unterstützung vor allem durch die USA ab.
Präsident Uribe versucht deshalb seine
Politik durch eine Verfassungsänderung zugunsten einer zweiten
Amtszeit zu verstetigen. Unabhängig von der Frage, ob das
kolumbianische Verfassungsgericht die vom Parlament verabschiedete
Aufhebung des Verbots der Wiederwahl absegnet, bleibt aber offen,
ob Uribes Politik ein Intermezzo oder einen Wendepunkt
darstellt.
Für einen qualitativen Sprung des
Nation-Building bedarf es in Kolumbien nicht nur der Stärkung
der staatlichen Sicherheitskräfte, sondern insbesondere der
integrativen Fähigkeiten des Staates sowohl in seiner
rechtsstaatlichen wie auch in seiner sozialpolitischen Dimension.
Kolumbien verfügt über zahlreiche natürliche
Ressourcen - Kohle, Öl, Gold, Edelsteine -, die aber bisher
immer nur einer Minderheit zugute gekommen sind. Nur wenn sich hier
etwas ändert und der Staat seine Verpflichtung auf das
Allgemeinwohl ernst nimmt, kann eine Basis für einen
tragfähigen Prozess des Nation-Building entstehen.
Dr. Sabine Kurtenbach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg.
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