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Josef-Thomas Göller
Unregierbare Perle der Karibik
Haiti versinkt trotz mehrfacher Interventionen
im Chaos
In Haiti, der einstigen französischen "Perle der Karibik"
ist jede Nacht die "Nacht der langen Messer". Alle namhaften
westlichen Hilfsorganisationen haben aufgegeben, dort ein Büro
zu unterhalten. Westliche Reporter halten sich nur tage- oder
stundenweise in Port-au-Prince, der so genannten Hauptstadt, auf,
aus Angst, ausgeplündert zu werden. Wer irgendwie kann,
verlässt dieses Land, das schon lange keines mehr ist. Auf
waghalsigen Flößen versuchen immer wieder Tausende diesem
Albtraum zu entfliehen, treiben über den Golf von Mexico nach
Florida, dem "gelobten Land", wo neben den
Hispano-Flüchtlingen von der Nachbarinsel Kuba ganze Orte das
haitianische Creol-Französisch sprechen.
Einziger Nachbarstaat, der für Flüchtlinge auf dem
Landweg zu erreichen ist, ist die im Osten gelegene
spanischsprachige Dominikanische Republik. Aber dort stoßen
sie auf Hass und eine Fülle von Vorurteilen, da die Haitianer
in vielerlei Hinsicht so völlig "anders" sind als die
Dominikaner: Sie sprechen Französisch, sind die Nachfahren
afrikanischer Sklaven, sie sind bettelarm und gelten als
hemmungslos gewaltbereit. Außerdem fürchten die ebenfalls
armen Dominikaner, dass ihnen die Haitianer auch noch die wenigen
Arbeitsplätze wegnehmen. Im August 2005 kam es nach Monaten
der Spannungen zwischen tausenden von haitianischen
Flüchtlingen und Dominikanern zu schweren Ausschreitungen.
Drei Haitianer wurden lebendig verbrannt.
Die 7,5 Millionen Einwohner Haitis, davon fast die Hälfte
unter 14 Jahren, zählen seit eh und je zum Armenhaus der
westlichen Hemisphäre. Sie sind buchstäblich die
Ärmsten der Armen. Die amerikanische "Ordnungsmacht" im Norden
hat mehrfach versucht, diesem Chaos Einhalt zu gebieten. Zum letzen
Mal am 29. Februar 2004. Präsident George W. Bush griff mit
einer militärischen Blitzaktion ein, nicht nur, um ein
Massenabschlachten in den Straßen von Port-au-Prince zu
verhindern, sondern auch, um keine unkontrollierbare
Flüchtlingswelle, vom Fernsehen dramatisiert, im damaligen
Wahlkampf auf die USA zuschwimmen zu sehen.
Intervention der UNO
Abgesegnet vom UN-Sicherheitsrat, landeten die USA in Haiti rund
2.000 Marines an, zum ersten Mal unterstützt von der
französischen Fremdenlegion und kanadischen Einheiten, wieder
einmal, um Ordnung herzustellen. Der bisherige Präsident Jean
Bertrand Aristide und seine Familie wurden hastig mit einer
amerikanischen Militärmaschine evakuiert und nach Afrika
geflogen, wenige Stunden, bevor die gegen ihn meuternden Banden -
in der Presse fälschlich "Rebellen" genannt - seinen Palast
stürmen und ihn umbringen konnten.
Der seit Jahren zunehmend realitätsfern gewordene
Präsident Aristide sprach damals von einer "Entführung",
einem "amerikanischen Komplott". Davor waren die USA schon einmal
mit einer Armee gelandet: 1994, als der damalige Präsident
Bill Clinton eben genau diesem Aristide mit sage und schreibe
20.000 Marines wieder zur Macht verholfen hatte. Außerdem
sollten die Marines dort zwei Jahre lang Nation-Building betreiben.
Vor allem schwarze Bürgerrechtler innerhalb der Demokraten
drängten Clinton zum Handeln. Ergebnis: Null. Haiti blieb, was
es schon immer war: korrupt und unregierbar. Seit der
Unabhängigkeit im Jahr 1804 gab es 33 hatitianische
Diktatoren, die offiziellen Präsidenten nicht
mitgerechnet.
Es wären mehr, hätten die USA dieses blutige Treiben
nicht von 1915 bis 1934 unterbrochen. Präsident Woodrow Wilson
sandte 1915 zum ersten Mal die Marines nach Haiti, nachdem sieben
Jahre hintereinander gegen sieben haitianische Präsidenten
geputscht worden war. Die Amerikaner bauten rund 2.000 Kilometer
Straßen, 210 Brücken, neun Flugplätze, verlegten
Telefonleitungen, zogen Abwässerkanäle, bauten moderne
Krankenhäuser und Schulen und rückten 1934 wieder ab, in
der Hoffnung, alle Grundlagen für einen stabilen Staat gelegt
zu haben. Damals nannte man dies weder Nation-Building noch
"Entwicklungshilfe", sondern "Nachbarschaftshilfe".
François Duvalier - mit dem Beinamen "Papa Doc" - riss sich
jedoch das Land unter den Nagel, gefolgt von seinem Sohn "Baby
Doc", der 1986 unter Druck des amerikanischen Präsidenten
Ronald Reagan außer Landes floh und so den Weg freigab
für Wahlen. Papa und Baby Doc regierten das Land mit dem
Terror ihrer Todesschwadronen, den "Tonton Macoutes", auf Creolisch
"Schreckgespenster".
Genau mit dieser Methode, durch angeheuerte Mörderbanden,
verschaffte sich Jean Bertrand Aristide nach der Wiedereinsetzung
durch die USA im Jahr 1994 Respekt im eigenen Land und trieb es
erneut in die Anarchie. Eine im Jahr 2000 durchgeführte
Scheinwahl mit einer Wahlbeteiligung von fünf Prozent wurde
selbst von der sonst großzügigen Organisation
Amerikanischer Staaten (OAS) als Betrug gebrandmarkt.
Kein Geld mehr aus Washington
Vor eineinhalb Jahren entsendeten die Amerikaner keine Pioniere
mehr zum Brückenbau und Ärzte für
Krankenhäuser. Das Geld für Übersee-Einsätze
ist auch in Washington dank der gigantischen "Irak-Hilfe" knapp
geworden. Auch fragte sich die Bush-Regierung, in welches Loch sie
vergeblich Geld pumpen soll - genauso wie Frankreich und Kanada,
von denen die Haitianer keinen Cent erwarten konnten.
Auf diese Weise schwelen inzwischen schon all zu lange
sämtliche Konflikte in der Region: In Kolumbien herrscht der
längste Bürgerkrieg der Welt - seit 1957. Mindestens
1.000 so genannte amerikanische Militärberater versuchen seit
Bill Clintons "Krieg gegen Drogen" 1993, die kolumbianischen
Drogenkartelle zu zerschlagen. Der Autokrat Hugo Chavez in
Venezuela zündelt am Öl-Hahn seines Landes und
stänkert gegen die USA. Der letzte Kommunist Lateinamerikas,
Fidel Castro, produziert - trotz oder wegen des sturen Boykotts der
USA - seit mehr als 45 Jahren Tausende von Flüchtlingen
jährlich, die Miami in ein Ersatz-Kuba verwandelt haben.
Auch in den Andenstaaten brodelt es: In Bolivien stürzten
vor einem Jahr Indianer ihren Präsidenten. Dort ist der Anbau
von Coca offiziell erlaubt. Peru bleibt nach Fujimoris Sturz im
Jahr 2000 ebenfalls anfällig für Drogenanbau und -handel.
Ecuador ist bankrott und hat den US-Dollar als Landeswährung
übernommen. Der Gigant Brasilien sieht sich außerstande,
die durch extreme Armut hervorgerufene Anarchie in den
Großstädten zu bekämpfen, geschweige denn
unzugängliche Grenzgebiete zu kontrollieren. Frank J. Gaffney,
Präsident des Zentrums für Sicherheitspolitik in
Washington, wies vor einem Jahr darauf hin, dass sich im Dreieck
Brasilien, Paraguay und Argentinien islamische Terroristen mittels
Bestechungsgeldern Verstecke und Trainingslager erkaufen.
Alle weltwirtschaftlichen Strukturen der Neuzeit - insbesondere
die Pseudo-Kredithilfen der Weltbank und des Internationalen
Währungsfonds - haben Lateinamerika und die Karibik in eine
dramatische Schuldenkrise gestürzt. Schon Anfang der
70er-Jahre sprach der uruguayische Journalist Eduardo Galeano von
den "offenen Adern Lateinamerikas". Das schlimmste Beispiel Haiti
zumindest sollte für Washington und Europa ein Weckruf sein:
Nation-Building funktioniert nicht mit der Entsendung von ein paar
Kompanien Fallschirmjäger und ein paar Millonen Dollar
Startgeld. Weder in Lateinamerika, noch in Afrika, Asien oder
Arabien.
Doch was passiert stattdessen? In Haiti werden am 6. November
mit Unterstützung der UNO und den USA
Präsidentschaftswahlen abgehalten. Die Weltgemeinschaft tut
so, als gäbe es ein Land, wo dies möglich ist und Sinn
macht. Ernsthaftes Nation-Building in Haiti hieße ein auf
Jahrzehnte angelegtes Projekt, ähnlich wie auf dem Balkan, mit
dem erst einmal Hunger und Chaos beseitigt werden. Dann lohnt es
sich, Schulen und politische Strukturen aufzubauen. Erst danach
kann man an Selbstverwaltung und Eigenverantwortung arbeiten.
Die USA haben mit ihrem 19 Jahre währenden Versuch zwischen
1915 und 1934, Haiti als Staat aufzubauen, das Land zusehr wie eine
Kolonie behandelt. Deshalb wäre in diesem Fall eine
multinationale Zusammenarbeit tatsächlich sinnvoll. Aber die
Franzosen und Kanadier haben schon wieder resigniert, wollen
schnellstmöglich aus Haiti abziehen und das Land sich erneut
selbst überlassen - bis zur nächsten Invasion.
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