Edwina S. Campbell /Tony R. Mullis
Von Kansas in den Irak
Die US-Army muss aus den Erfahrungen der
Vergangenheit lernen
Schon lange vor ihrem Engagement in Somalia, Haiti und auf dem
Balkan in den 90er-Jahren war die US-Army im Einsatz, um
krigerische Konfliktparteien zu trennen, für Ordnung und
Stabilität in der zwischen den Fronten stehenden
Zivilbevölkerung zu sorgen und Bedingungen für freie und
gerechte Wahlen zu schaffen.
Der "failed state", in dem dieser Einsatz stattfand, lag nicht
am Horn von Afrika oder in der Karibik, sondern in den Vereinigten
Staaten selbst, westlich des Mississippi. "Bleeding Kansas"
("blutendes Kansas") war in den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts
ein Territorium der Vereinigten Staaten, das nach
Eigenstaatlichkeit strebte. Die Frage war indes: sollte Kansas mit
dem Beitritt zur Union ein Staat mit oder ohne Skalverei
werden.
Über die anstehende Aufnahme des sklavenhaltenden
Mittelwest-Staates Kansas in die Union war es zu bewaffneten
Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der
Sklaverei in Kansas gekommen. Deshalb entsandte 1856 der damalige
Präsident Franklin Pierce die US-Army. Sie sollte genaue
Informationen und Erkenntnisse über die Greueltaten einholen
und klären, wie mit den irregulären, aufständischen
Milizen und der sie unterstützenden Bevölkerung
umgegangen werden sollte.
Die Aufgabe, einen Aufstand niederzuschlagen entsprach
zunächst nicht dem Verständnis der US-Army. Doch durch
strenge Unparteilichkeit schuf die Army schließlich jenen
"politischen Raum", in dem der neue Gouverneur seine
Legitimität und Autorität etablieren konnte. Die Armee
versuchte zum Beispiel nicht, die Grenze zu Missouri, einem
Sklavenhalterstaat, abzuriegeln, obwohl aus dem Nachbarstaat viele
bewaffnete Befürworter der Sklaverei nach Kansas einsickerten,
um dort zu kämpfen. Sie hinderte aber auch Sklavereigegner
nicht an der Einreise nach Kansas. Denn, so die damalige
Überlegung: Das Abriegeln der Grenzen von Kansas durch die
Bundes-Armee hätte diese dem Vorwuf aussgesetzt, sie
unterstütze eine der beiden Seiten. Somit bestand die Gefahr,
die Bundestruppen könnten eher zu einer Eskalation der Gewalt
bis hin zum Bürgerkrieg beitragen als die Lage beruhigen.
Die erfolgreiche Staatenbildung in Kansas hing aber letzlich
doch von der Politik ab. Ein neuer Gouverneur verzichtete
beispielsweise auf die Bestrafung der Verantwortlichen beider
Konfliktparteien, setzte aber die Auflösung der offiziellen
Miliz von Kansas durch und bildete eine neue Landesverteidigung aus
Offizieren beider Lager. Diese unterstellte er dem Oberkommando der
US-Army.
Letztendlich erwiesen sich Frieden und Ordnung in Kansas nur als
vorübergehend haltbar. Obwohl Kansas wenige Jahre später
kaum in den amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865)
hineingezogen wurde, nutzten Befürworter und Gegner der
Sklaverei die Unruhe im Land, um alte Rechnungen aus den
1850er-Jahren zu begleichen.
Indes: Dass in den USA ein Bürgerkrieg ausbrach,
schmälert nicht den Erfolg der US-Army bei der Erfüllung
ihrer Mission in Kansas im Jahr 1856. Warum also wurde in der
institutionellen Erinnerung und dem kollektiven Bewusstsein der
US-Army in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts diese Tradition der
Friedensschaffung so wenig gewürdigt? Und warum war die
US-Army in Afghanistan seit 2001 und in Irak seit 2003 nicht besser
in der Lage, zügig auf ihre taktische, operationelle und
strategische Erfahrung im Nation-Building zurückzugreifen?
Wie die Rolle der Army im "blutenden Kansas" zeigt, sammelte sie
nicht erst im besetzten Deutschland und Japan nach 1945 relevante
Erfahrungen in der Staatenbildung, sondern schon viel früher
in der Geschichte, an der Westgrenze der USA. Doch diese Erfahrung
hat keinen bleibenden Eindruck in der institutionellen Kultur, der
Ausbildung oder der Doktrin der US-Army im 20. Jahrhundert
hinterlassen.
So wie die Rolle der US-Army nach dem amerikanischen
Bürgerkrieg in der Wiederaufbau-Phase an Bedeutung verlor, so
verblassten auch die Erfahrungen, die in Kansas gesammelt worden
waren. Und nach 40 Jahren des Kalten Krieges verwob sich das
Selbstbild der US-Army eng mit der Stationierung schwer bewaffneter
Truppen an der zentralen NATO-Frontlinie, der innerdeutschen
Grenze, um die sowjetischen Truppen abzuschrecken und, wenn
notwendig, zu besiegen.
Die US-Army musste seit 1995, als sie in Bosnien zur gleichen
Friedenssicherung wie damals in Kansas stationiert wurde ihre
Lektion hinsichtlich Staatenbildung völlig neu erlernen:
Genauso wie in Kansas ist und bleibt es von zentraler Wichtigkeit,
Zurückhaltung und Unparteilichkeit bei der Friedenssicherung
zu üben und eng zwischen Militär- und Zivilbehörden
zusammenzuarbeiten, denn zivile Legitimität ist letztendlich
der Schlüssel für einen erfolgreichen Übergang von
militärischer Besatzung zu demokratischer
Staatsführung.
Von besonderer Bedeutung ist auch, dass die heutigen Offiziere
der US-Army in Afghanistan und Irak seit 2001 mit einer
Realität konfrontiert sind, die ihren Vorgängern an der
Grenze von Kansas nur allzu bekannt war: der Unmöglichkeit,
taktisch-operationelle und strategisch-politischen Entscheidungen
voneinander abzugrenzen.
In der Ungewissheit und Vieldeutigkeit von Friedenssicherung und
Nation-Building haben alle taktischen und operationellen
Entscheidungen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch strategische
Konsequenzen. Von Somalia bis Irak hat die neue Generation von
Offizieren diese Lektion neu gelernt. Sie sollte nicht wieder
vergessen werden, so wie im 20. Jahrhundert.
Es wird für die Rolle Amerikas in
Friedenssicherungsmissionen und Nation-Building in den kommenden
Jahren von entscheidender Wichtigkeit sein, dass diese Lektion und
ihre Bedeutung für Doktrin und Ausbildung Eingang in die
Institutionskultur der US-Army findet.
Übersetzt aus dem Englischen durch den Sprachendienst des
Deutschen Bundestages.
Dr. Campbell ist Professorin für "National Security
Studies" an der Air University, Maxwell Air Force Base, Alabama.
Dr. Mullis ist außerordentlicher Professor für
Strategisch-operationelle Studien am Command and General Staff
College, Fort Leavenworth, Kansas. Die hier wiedergegebene Meinung
ist die der Autoren, nicht der US-Regierung.
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