|
![](../../../layout_images/leer.gif) |
Josef-Thomas Göller
Editorial
In Artikel 1 der bis heute gültigen Konvention über
die Rechte und Pflichten eines Staates von Montevideo aus dem Jahre
1933 wird ein Staat folgendermaßen definiert: Er hat eine
feste Bevölkerung, ein abgegrenztes Territorium, eine
Regierung und ist zur Aufnahme und Unterhaltung von Beziehungen mit
anderen Staaten in der Lage. Auf die "Staaten" Somalia, Haiti,
Liberia und Bosnien-Herzegowina trifft diese Definition
beispielsweise nicht zu: Diese Staaten gibt es bestenfalls in
geografischen Grenzen und auf dem Papier. Bei weiteren 60 "Staaten"
dieser Erde kann man die Montevideo-Definition ebenfalls nicht oder
nur teilweise als erfüllt ansehen. Und dennoch zählen
alle diese Länder zu den 191 Staaten, die Mitglieder der
Vereinten Nationen sind. Weltfremd? Nur, wenn man von der
europäischen Variante des "Nationalstaates" ausgeht, eine wohl
zunehmend überholte Definition des 19. und 20. Jahrhunderts,
wie auch eine Reihe von Autoren in dieser Ausgabe feststellt.
In 30 Beiträgen analysiert ein internationales Autorenteam
das Thema: Wie kommt es zum Staatszerfall, was passiert in
Ländern, wo Staatsbildung - Nation-Building - betrieben wird;
kritisch kommen die Einsätze von UNO, USA, EU und Deutschland
auf den Prüfstand. Seit den 90er-Jahren beteiligen sich
deutsche Regierungen an staatenbildenden Maßnahmen auf dem
Balkan, in Afghanistan, aber auch in den gleichen Regionen, in
denen sie seit 40 Jahren Entwick lungshilfe leisten. Da muss
nachgefragt werden dürfen, warum bei all dem Aufwand dennoch
tausende afrikanischer Flüchtlinge nach Norden drängen
und an den Grenzen Europas stranden. "Sie leben, um Europa zu
erreichen", stellt beispielsweise der portugiesische Schriftsteller
und Journalist Paolo Moura fest, der durch seine ergreifenden
Reportagen zum Flüchtlingsexperten avancierte.
Flüchtlinge sehen die spanischen Exklaven in Marokko als Tor
zu Europa. Es sollte niemanden wundern, dass trotz all der
Milliarden an Entwicklungshilfe in den vergangenen vier Jahrzehnten
eine beachtliche Zahl an Staaten südlich der Sahara immer noch
strauchelt und ihren Bürgern nicht einmal die elementaren
Rechte wie Sicherheit der individuellen Freiheit und des Eigentums
gewährleisten kann, geschweige denn Arbeit, Wohnung,
Heilfürsorge. In der amerikanischen Verfassung steht den
Bürgern sogar das Recht zu, nach Glück zu streben
(Pursuit of Happiness). Auch wenn dieses Recht
verfassungsmäßig weltweit einmalig ist, träumt doch
jeder Mensch letztendlich genau davon. Deshalb fehlt bei allem
Enthusiasmus vieler Staatslenker für das Nation-Building in
zerfallenden Staaten die wichtigste Hinterfragung: Wie kann man
Staatszerfall eigentlich verhindern? Nicht erst seit diesem Sommer,
als in Washington eine Liste der zerfallenden oder akut von Zerfall
bedrohten Staaten veröffentlicht wurde, wissen wir, wo es
brennt. Haiti zum Beispiel war seit seiner blutigen Loslösung
von Frankreich vor 200 Jahren eigentlich noch nie ein Staat, der es
wert gewesen wäre, ein solcher genannt zu werden; gleichzeitig
aber sind die Haitianer das homogenste Volk südlich des Rio
Grande. Oder Berg-Karabach im Kaukasus: Diese Region darf sich
nicht Staat nennen, erfüllt aber alle Kriterien der
Montevideo-Defintion. Wobei die Völkerrechtler von 1933 in
Artikel 3 der Konvention von Montevideo auch explizit festgestellt
haben: "Die politische Existenz eines Staates hängt nicht von
der politischen Anerkennung durch andere Staaten ab." Es lohnt
sich, dass die politschen Akteure darauf drängen, ein
politisches "Tsunami-Frühwarnsystem" aufzubauen, das auf
politische Beben in den bekannten Krisenregionen reagiert. Dieses
Frühwarnsystem ist politisch wichtig und, offen gesagt,
billiger. Insofern repräsentiert Nation-Building immer nur die
zweitbeste Lösung, nicht nur für die jeweils unmittelbar
betroffenen Völker.
Josef-Thomas Göller arbeitet als freier Journalist in
Berlin.
Zurück zur
Übersicht
|