Jörg Jacob
"Wir sind dabei gewesen!"
Eine Innenansicht der
Wiedervereinigung
Ddie Lektüre dieses Buches ruft in Erinnerung, wie wenig
die deutsche Wiedervereinigung weder außen- noch
innenpolitisch von vornherein gesichert war und wie sehr
Entscheidungen unter Zeitdruck und aus Furcht, eine historische
Chance zu verpassen, gefällt werden mussten. Der Autor, Claus
J. Duisberg, war als Leiter des Arbeitsstabes Deutschlandpolitik im
Bundeskanzleramt an den innerdeutschen Verhandlungen und an vielen
internen Gesprächen beteiligt. Ab Oktober 1990 war er Leiter
der Dienststelle des Auswärtigen Amtes, dann auch Beauftragter
der Bundesregierung für den Aufenthalt und Abzug der
sowjetischen Truppen aus Deutschland.
In seinem Vorwort spricht Duisberg zwar bescheiden von lediglich
persönlichen Eindrücken und Erinnerungen, doch ist sein
Buch durchaus mehr. In 15 chronologisch geordneten Kapiteln
entfaltet sich der Lauf einer unvorhersehbaren Entwicklung, deren
Dynamik stetig zunahm: Vom Vorabend der Krise im Sommer 1989, den
Prager Botschaftsflüchtlingen, über die immer
stärker um sich greifende Ausreisewelle bis zu den
Demonstrationszügen im Herbst und den in der Folge
aufkommenden Forderungen nach einer Wiedervereinigung beider
deutscher Staaten. Die Innenansicht des Autors zeigt, dass die
handelnden Akteure dabei in zunehmendem Maße vom ungeheuren
Sog der immer rascher aufeinander folgenden Ereignisse
überrascht und mitunter auch überrollt wurden.
Breiten Raum nimmt die Schilderung der innenpolitischen
Ereignisse in der Interimszeit ein, die mit dem Zerfall der
Machtstrukturen der SED beginnt und bis zum Beitritt des
DDR-Gebietes zur Bundesrepublik anhält. Schon zuvor liefen
hinter den Kulissen die Vorbereitungen für eine Neuordnung der
deutschen Verhältnisse ab. Ausführlich dargestellt werden
die komplexen - unter ernormem Zeitdruck zu bewältigenden -
Verhandlungen zum Einigungsvertrag, die Probleme bei der
Währungsunion und beim Finanztransfer sowie der bis 1994
erfolgte vollständige Abzug der sowjetischen Truppen vom
ehemaligem Territorium der DDR.
In seinem Bericht lässt Duisberg persönliche
Erinnerungen, Eindrücke und Erfahrungen auf angenehm
unaufgeregte und stets diskrete Weise einfließen. Entsprechend
seinen Tätigkeitsbereichen in dieser Zeit widmet sich "Das
deutsche Jahr" vorwiegend den innenpolitischen Aspekten der
Wiedervereinigung, vor allem den langwierigen und komplizierten
Beitrittsverhandlungen. Das ist keineswegs langatmig oder in
trockenem Aktendeutsch verfasst. Das Buch liest sich vielmehr
über weite Passagen recht spannend.
Die wesentlichen Stationen dieser Zeit bestimmen die
Kapitelstruktur des Buches. Die Schilderungen persönlicher
Begegnungen mit den letzten Repräsentanten der DDR (Krenz,
Modrow, de Maizière und "einer grauen Maus namens Angela
Merkel, die einstmals als zweite Pressesprecherin de Maizieres
emsig Aktenstöße hin und hertrug") sind nicht ohne Reiz
zu lesen.
Duisberg versucht unverkennbar, die umwälzenden Ereignisse,
die sich zwischen dem legendären paneuropäischen Picknick
an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich im Sommer 1989
und den Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung Deutschlands im
Herbst 1990 vollzogen, in einem übergeordneten his-torischen
Zusammenhang zu fassen. Das wird nicht zuletzt auch in den
Schlusssätzen deutlich, wenn es in Anspielung an Goethe
heißt: "In jedem Fall aber können wir sagen: Wir sind
dabei gewesen."
Die Komposition aus historischer Sicht und subjektiver
Berichterstattung, koloriert mit Zitaten und Beschreibungen
prominenter Akteure, lässt "Das deutsche Jahr" zu einem
empfehlenswerten Geschichtsbuch werden.
Claus J. Duisberg
Das deutsche Jahr. Innenansichten der Wiedervereinigung
1989/1990.
Verlag Wolf Jobst Siedler jr., Berlin 2005; 400 S., 24,90
Euro
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