Detlev Lücke
Seismograf deutscher Befindlichkeit
Aufbau - ein 60 Jahre junger deutscher
Verlag
Mit einem interessanten Programm geht der Berliner Aufbau-Verlag
in den diesjährigen Buchherbst. Kürzlich feierte das
Unternehmen gemeinsam mit Autoren, Verlagsmitarbeitern und
Leserpublikum auf einer Festveranstaltung im Berliner Ensemble sein
60-jähriges Bestehen. Bei dieser Gelegenheit betonte
Verlagschef Bernd F. Lunkewitz, der das Unternehmen nach der Wende
vor dem Konkurs rettete und die Finanzierung auf sicheren Grund
stellte, dass Aufbau "ostdeutsche Identität im vereinigten
Deutschland" eingebracht habe. Lunkewitz aus Frankfurt am Main.
hatte den Verlag 1991 von der Treuhand übernommen.
Der Verlag war 1945 von dem Dichter und späteren
DDR-Kulturminister Johannes R. Becher gegründet worden. Die
ebenfalls im selben Jahr ins Leben gerufene Literaturzeitschrift
"Aufbau" hatte als ersten Chefredakteur Klaus Gysi; zu ihren
frühen Mitarbeitern zählten Anna Seghers, Ernst Wiechert
und Victor Klemperer. Aufbau war mitnichten ein "Staatsverlag", wie
ihn die Schriftstellerin Ines Geipel kürzlich in einem Nachruf
für Henryk Bereska pejorativ bezeichnete. Zu seinen ersten
Autoren gehörten Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger, Bertolt
Brecht, Georg Lucács und Nelly Sachs.
Die wechselvolle Geschichte aus Widerstreben und Anpassung
zeigte sich unter anderem an der Verhaftung des damaligen
Verlagsleiters Walter Janka im Herbst 1956 und an der
Veröffentlichung von Christoph Heins Roman "Horns Ende" gegen
den Willen der DDR-Zensur durch Aufbau-Chef Elmar Faber.
Obwohl Aufbau in den vergangenen Jahren unter anderem mit
Christa Wolf und Christoph Hein wichtige Autoren verlor, gibt es in
den kommenden Monaten interessante Bücher heraus, so den
Debütroman des hoch bewerteten französischen Autors Yann
Appery "Das zufällige Leben des Homer Idlewilde", den
russischen Roman "Vergiss Tarantino" von Julia Kissina, Steffen
Menschings Mediensatire "Lustigs Flucht", Thomas Lehrs Roman "42"
und Lenka Reinerovas Erzählungen "Närrisches Prag".
Außerdem erscheinen ein neuer Band der Anna-Seghers- und Band
14 der Theodor-Fontane-Gesamtausgabe.
Unter den Sachbüchern findet Landolf Scherzers Bericht "Der
Grenzgänger" ein großes Echo. Scherzer wanderte mehr als
440 Kilometer entlang der bayerisch-thüringischen Grenze und
schrieb seine Beobachtungen in Dörfern und kleinen
Städten an der ehemaligen Demarkationslinie auf. Ein Bericht
aus einem in Spaltungen vereinten Land, in dem der Verlag einen
festen Platz als Seismograf deutsch-deutscher Befindlichkeiten
gefunden hat. Eine kulturpolitische Haltung, zu der auch Michel
Friedmans bewegender Roman über seine Familie "Kaddisch vor
Morgengrauen" und Armin Müller-Stahls Bildband "Amerikanisches
Tagebuch" gerechnet werden müssen.
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